Die Stunde des Tors
experimentieren.« Seine Stimme klang matt und emotionslos.
»Ich wollte, es wäre anders, Junge. Selbst Magie hat allerdings ihre Grenzen. Der Tod ist eine von ihnen.«
Jon-Tom stand betäubt da, balancierte immer noch das tote Gewicht auf seinen Schultern. »Aber Sie sagten, Sie haben mir...«
»Was ich dir sagte, diente dem Zweck, dich zu retten. Verzagtheit befähigt nicht zu schnellem Denken und zum Oberleben. Du hast überlebt. Talea, gepriesen sei ihr quecksilbriges und unbeugsames kleines Herz, würde dein Selbstmitleid in genau diesem Moment verfluchen, wenn sie dazu imstande wäre.«
»Sie verlogener, kleiner, hartschaliger...«
Clodsahamp trat vorsichtig einen Schritt zurück. »Zwinge mich nicht, dich zu bremsen, Jon-Tom. Ja, ich habe dich angelogen. Es war nicht das erste Mal, wie Mudge so gerne betont. Eine Lüge im Dienst des Richtigen ist eine Art von Wahrheit.«
Jon-Tom stieß einen unartikulierten Schrei aus und stürzte vor, von Sinnen sowohl wegen der eisigen Endgültigkeit seines Verlustes, als auch wegen der Doppelzüngigkeit des Hexers. Keine Persönlichkeit mehr, nicht einmal eine Erinnerung, fiel der Körper von seinen Schultern auf den Boden. Blindlings griff er nach dem leidenschaftslos gelassenen Hexer.
Clodsahamp hatte gesehen, wie die Wut sich in Jon-Tom aufbaute, hatte die Zeichen in seinem Gesicht bemerkt, in der Art, wie er stand, in der Spannung seiner Haut. Die Hände des Hexers bewegten sich rasch, und er murmelte unsichtbaren Dingen Worte wie »Betäubung« und »gefügig machen« zu.
Jon-Tom ging so sauber zu Boden, als sei er von seinem eigenen Stab getroffen. Einige Soldaten bemerkten, daß etwas im Gange war, und kamen herüber.
»Ist er tot, Herr Magier?« fragte einer neugierig.
»Nein. Im Augenblick wünscht er aber, es wäre so.« Der Hexer deutete auf den Leichnam Taleas. »Das erste Opfer des Krieges.«
»Und der hier?« Das Baumhörnchen zeigte auf Jon-Tom.
»Liebe fordert immer das zweite Opfer. Nach einer gewissen Weile wird es ihm wieder gutgehen. Er braucht Ruhe, keine Erinnerungen. Da ist ein Zelt hinter dem Hauptquartier. Bringt ihn dorthin.«
Der Schwanz des Soldaten zuckte durch die Luft. »Wird er denn gefährlich sein, wenn er wieder zu Bewußtsein kommt?«
Clodsahamp betrachtete den sanft atmenden Körper. »Ich glaube nicht, nicht einmal für sich selbst.«
Das Baumhörnchen salutierte. »Wir kümmern uns um ihn.«
Es gibt wenige Drogen, sinnierte Clodsahamp, die sowohl das Herz als auch den Verstand betäuben und lähmen können. Unter ihnen ist Kummer die mächtigste. Er sah zu, wie die Soldaten den jugendlichschlaksigen Jon-Tom wegtrugen und zwang sich dann, sich ernsteren Angelegenheiten zuzuwenden. Talea lebte nicht mehr, und Jon-Tom war schwer beeinträchtigt. Nun, der Junge tat ihm wirklich sehr leid, aber sie würden ohne seine launischen Talente auskommen, wenn sie mußten. Er konnte den Haß des Jungen nicht dämpfen.
Dann laß ihn also hassen, wenn er es wünscht. Das wird seine Gedanken von seinem Verlust ablenken. Er wird mir zwar nach dieser Geschichte ewig mißtrauen, aber darin wird er sich in Gesellschaft der meisten Geschöpfe befinden. Die Leute fürchten immer, was sie nicht verstehen können.
Das macht das Leben natürlich zu einer einsamen Angelegenheit, alter Bursche. Sehr einsam. Du wußtest es, als du die Gelübde abgelegt und die Eide geschworen hast. Er seufzte und watschelte davon, um Aveticus aufzusuchen. Das dagegen war ein rationaler Verstand, dachte er erfreut. Phantasielos, aber klar. Er wird meinen Rat akzeptieren und entsprechend handeln. Ihm kann ich helfen.
Vielleicht kann er dafür auch mir helfen. Zweihundert und wieviel Jahre, alter Bursche?
Müde, verflixt. Ich bin so müde. Zu schade, daß ich zusammen mit den anderen auch einen Verantwortlichkeitsschwur ablegte. Aber dieses Übel von Eejakrat muß aufgehalten werden.
Clodsahamp war klug und in vielen Dingen bewandert, aber selbst er hätte nicht zugegeben, daß das, was ihn wirklich antrieb, nicht sein Verantwortlichkeitsschwur war. Es war Neugier...
Roter Nebel erfüllte Jon-Toms Blickfeld, Blutdunst. Er löste sich auf, als er blinzelte. Es war nicht der allgegenwärtige Dunst der schrecklichen Grünauen, sondern ein trüber Schleier, der rasch verschwand.
Er blickte hoch und sah vielfarbiges Gewebe anstatt blauen Himmels. Dann hörte er eine vertraute Stimme sagen: »Ich werde mich jetscht um ihn kümmern.«
Er stützte sich auf die
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