Die Stunde des Tors
Knochenbrechergipfels empor, die aussah wie das versteinerte Rückgrat eines lange vergangenen Titanen.
Viele glaubten fest daran, daß in einer Höhle an der Spitze dieses sturmumtosten Gipfels das Allwissende Orakel hauste. Selbst große Hexer waren nicht imstande gewesen, die Winde zu durch dringen, die ewig um die unzugängliche Klippe heulten. Denn bis jemand weise genug geworden war, um zu wissen, wie die Reise sich vielleicht durchführen ließ, war er auch zu alt dafür geworden, was erklären mochte, warum einsame Wanderer manchmal hörten, wie monströses Gelächter die Hänge herunterrollte, obwohl die meisten darauf bestanden, daß es nur der Wind gewesen sei.
Die Schwertgau erinnerte an eine gepflegte Spielwiese; andere Pflanzenarten, die darum kämpften, sich über das dichte Gras zu erheben, waren nur in vereinzelten Flecken erfolgreich: Hier und da ragten Inseln aus dem wogenden grünen Ozean, die entweder aus sehr dünnen Bäumen oder enormen Löwenzahnpflanzen bestanden.
Es gab weder Straßen noch Pfade durch die Schwertgau. Das Gras, das sie bedeckte, wuchs schneller als Bambus. So schnell, daß es, wie Caz sagte, trotz viermaligen Schneidens an einem Tag bei Einbruch der Dämmerung so dicht sein würde wie zuvor. Glücklicherweise waren die Halme ebenso biegsam wie schnellwachsend; der Wagen rollte leicht über sie hinweg.
Jeder Halm kannte den ihm zugeteilten Platz. Keiner wuchs höher als sein Nachbar oder versuchte, diesem das Licht zu stehlen. Trotz der Biegsamkeit des Grases hatte der Name Schwertgau durchaus seine Berechtigung. Während Falameezars dicke Schuppen genau wie die der Echsen so gut wie unverletzlich waren, mußten alle anderen bis auf Clodsahamp vorsichtig sein, wenn sie die Kutsche verließen, damit die scharfen Kanten der hohen Halme nicht durch Kleidung, Fell und Haut schnitten.
Jon-Tom lernte das ziemlich schnell: Einmal hatte er sich hinten aus dem Wagen gebeugt, um eine einzelnstehende blaue Blume zu pflücken. Ein kurzer, scharfer Schmerz ließ ihn zurückzucken. Eine dünne rote Linie von fünf Zentimeter Länge zog sich über seine Handfläche. Die Wunde blutete nur kurz und schwach, schmerzte aber noch tagelang.
Mehrere Male konnten sie schlanke Raubtiere sehen, die wie eine Kreuzung aus Krokodil und Windhund wirkten. Sie folgten dem Wagen stundenlang, bevor sie im Gras hinter ihm zurückfielen.
»Noulpe«, erklärte Caz, der aus der hinteren Schießscharte spähte. »Sie würden uns töten und fressen, wenn sie könnten. Aber ich glaube nicht, daß das wahrscheinlich ist. Falameezar verscheucht sie.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil sie uns verlassen. Ein Noulprudel folgt seiner Beute wochenlang, habe ich mir sagen lassen, bis es sie schließlich erschöpft hat.«
Die Tage wurden zu Wochen, die ohne Probleme vergingen. Mit jedem Tag kamen die schwarzen Wolken, die sich im Westen ballten, näher, wurde ihr Donner intimer. Sie versprachen schlimmeres Wetter als den vertrauten stetigen Nachtregen.
»Es ist immerhin Winter«, stellte Clodsahamp eines Tages fest. »Ich habe Sorge, daß wir hier draußen in wirklich schlimme Stürme geraten. Dieser Wagen ist nicht der Schutz, den ich gerne hätte.«
Aber als der Sturm schließlich voll über sie hereinbrach, war nicht einmal der Hexer auf dessen Wildheit vorbereitet: Der Wind schwoll an, bis er die Kutsche durchschüttelte. Regen und Graupel hämmerten unaufhörlich gegen die Holzwände, während die Echsen mit geschlossenen Augen aneinandergekauert im Gras lagen.
Der Wagen war breit und niedrig, er ließ kein Wasser durch und kippte nicht um. Jon-Tom gewöhnte sich fast an den Sturm, bis am vierten Tag draußen ein schrecklicher Schrei ertönte. Er wurde rasch leiser - vom Wind verschluckt.
Jon machte mit seinem Feuerzeug Licht. Die Flamme spiegelte sich in smaragdgrünen Augen. »Was ist los?« fragte Talea ihn verschlafen. Die anderen kamen unter ihren Decken hervor.
»Irgend jemand hat geschrien.«
»Ich habe nichts gehört.«
»Es war draußen. Jetzt ist es weg.«
Die Köpfe wurden gezählt. Flor war da und blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. Daneben lehnte sich Caz gegen die Wagenwand. Mudge war der letzte, der aufwachte, und zeigte so seine unvergleichliche Fähigkeit, trotz Wind, Donner und Schreien fest zu schlafen.
Nur Clodsahamp schien aufmerksam, spürte den Nachtgerüchen nach.
»Wir sind alle da«, sagte Flor müde. »Wer hat dann also geschrien?«
Clodsahamp, der immer noch
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