Die Stunde des Venezianers
der Gewürze für den Grafen von Flandern? Konnte der Gewürzhändler in Calais helfen, den Vater mir genannt hat?«
Colard nickte. Er hatte Mühe, Gleitjes Wechsel zu den Tagesgeschäften nachzuvollziehen. Sie benötigte kein Auftragsbuch. Sie hatte alle Transaktionen im Kopf.
»Ich erwarte die Fässer und Säcke noch heute, wenngleich der Preis gesalzen ist. Der Schurke nutzt unsere Notlage schamlos aus.«
»Sorg dich nicht.« Gleitje, die sonst jedes Kupferstück nachzählte, tat die Beschwerde mit einem Schulterzucken ab. »Hauptsache, wir können liefern. Am besten begleitest du die Ware nach Male und machst Aimée bei dieser Gelegenheit klar, dass ihre Rückkehr nach Brügge nicht erwünscht ist. Sie soll mit der Herzogin weiterziehen oder zurück in die burgundischen Wälder gehen, in denen sie geboren wurde.«
»Wie stellst du dir das vor? Piet Cornelis …«
»Piet Cornelis – Piet Cornelis«, wiederholte Gleitje verächtlich. »Piet Cornelis ist tot. Wir leben. Sie mag seine Ururenkelin sein, aber sie ist nicht fähig, die Geschicke dieses Hauses zu lenken. Die Ereignisse beweisen es. Sie hat es zugrunde gerichtet. Sie hat nicht länger das Recht, unter diesem Dach Befehle zu erteilen. Ich erwarte, dass der Vater meines Sohnes die Stärke eines Mannes beweist. All das hast du Aimée schließlich schon einmal gesagt und sie damit nach Male getrieben. Der Anfang ist gemacht, führ deine Arbeit erfolgreich zu Ende – oder hast du Angst vor Aimée?«
Gleitje verstand es, Colard ebenso bei seiner Mannesehre zu packen, wie sie ihm in Ratschläge verpackte Befehle erteilte, für die ihm die Kraft zum Widerspruch fehlte. Als er zwei Tage später, zu Wochenbeginn, in Male eintraf, schloss er zunächst seine Geschäfte ab und machte sich danach auf die Suche nach Aimée. Einer der hochnäsigen Pagen, die überall herumschwirrten, schickte ihn in die große Audienzhalle, wo der Graf von Flandern zusammen mit seinem Schwiegersohn Bittsteller empfing.
Im Gefolge der Herzogin hätte Colard Aimée beinahe nicht erkannt. Die Stoffe, die sie trug, hatte er als Ballen in Händen gehalten und den Wert der Edelsteine, die ihren Ausschnitt zierten, in den Kontenbüchern verzeichnet. Was sie an Aimée bewirkten, sah er zum ersten Mal. Es nahm ihm den Atem.
Sie grüßte ihn mit einem etwas hochmütigen Nicken. Die Erinnerung an den bitteren Streit stand unsichtbar zwischen ihnen.
»Ich nehme an, es ist dir gelungen, die Gewürze aufzutreiben, die der Haushofmeister des Grafen bei uns bestellt hat. Zu welchem Preis?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Ich musste mich auf ein Wechselgeschäft einlassen«, versuchte Colard ebenso sachlich zu bleiben. »Nur so ist es mir gelungen, unseren Ruf zu retten.«
Aimée beschränkte sich auf die wichtigste Frage. »Wann ist der Wechsel fällig?«
»Zum Tag des heiligen Michael. Am 29. September.«
»Das sind kaum drei Monate. Aber immerhin werden bis dahin die Flanderngaleeren eingetroffen sein. Das hast du gut gemacht, Colard.«
»Ich habe unsere Probleme hinausgeschoben, nicht gelöst«, entgegnete er. »Hast du die Nachrichten aus Andrieu erhalten?«
Sie stutzte. »Woher weißt du …«
»Messer Contarini wollte dich in Brügge aufsuchen und sie überbringen. Ich schickte ihn nach Male. Wie seid ihr verblieben?«
Nur weil er Aimée genau beobachtete, entdeckte er ein kleines Zucken um ihre Augen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Ich erhielt lediglich einen Brief aus Andrieu. Ein Bote übergab ihn meiner Kammerfrau.«
»Wenn das so ist«, erwiderte Colard ironisch. »Wie geht es deinem Onkel? Hat er dich wieder einmal gebeten, nach Andrieu zurückzukehren?«
»Das Schreiben enthielt die Nachricht von seinem Tod.«
Colard murmelte eine Floskel des Beileids. »Sicher wirst du in die Comté reisen, um am Grab deines Onkels zu beten«, vermutete er in scheinheiligem Mitgefühl. »Wann gedenkst du Flandern zu verlassen?«
Aimée würdigte ihn keiner Antwort. Sie blieb ihr erspart durch das Erscheinen von Alain, der mit einer solchen Selbstverständlichkeit nach ihrer Hand griff, dass er Colard damit überraschte. Seine Verblüffung war vollkommen, als er in Alain Contarini zu erkennen glaubte. Er sah die beiden an, als wären sie Sonne und Mond gleichzeitig. Bis er Aimées Worte vernahm.
»Gedulde dich bitte, Alain! Herr de Fine leitet mein Kontor in Brügge. Er hat mich aufgesucht, um wichtige Geschäfte mit mir zu besprechen.«
»Kann das nicht warten?«,
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