Die Stunde des Venezianers
Colard starrte auf das Pergament, das Salomon unter den vielen Schichten seiner Kleidung zum Vorschein gebracht hatte. Beim Anblick von Rubens Unterschrift verschwamm das Dokument vor seinen Augen.
»Wie Ihr seht, gehört mir zu diesem Termin ohnehin schon ein beträchtlicher Anteil des Hauses Cornelis«, hörte er ihn wie von ferne sagen. »Euer Vetter hat sich an einen meiner Verwandten in Gent gewandt, und der hat seine Forderung an mich abgetreten.«
Colard wollte nach dem Schuldschein greifen, aber der Fremde verneigte sich feierlich und ließ das Blatt ebenso flink wieder verschwinden, wie er es hatte erscheinen lassen.
»Der Friede sei mit Euch«, grüßte er.
Am selben Tag fand in einem Kontor am Walplein ein interessantes Gespräch statt.
Abraham Salomon, inzwischen in sauberes Tuch gekleidet, schilderte die Begegnung mit Colard und den Eindruck, den er von diesem Gespräch gewonnen hatte.
»Er wäre mir fast an die Kehle gegangen, um zu erfahren, woher mein Wissen stammt. Aber noch ist er nicht so verzweifelt, dass er auf mein Angebot eingeht. Wenngleich ihn der Schuldschein erkennbar erschüttert hat.«
Sein Auftraggeber erhob sich von einem prächtig geschnitzten Lehnstuhl.
»Ich danke Euch, Abraham Salomon. Habt Ihr ihm gesagt, wie und wann er uns seine Entscheidung wissen lassen soll?«
»Selbstverständlich.«
»Ich habe nicht gezweifelt, wollte nur sichergehen, mein Freund. Praktisch hat Ruben das Haus Cornelis bereits verkauft. Der Apfel ist reif. Wir müssen nur noch darauf warten, dass er uns in den Schoß fällt.«
»Wenn die Herbststürme die Einstellung des Schiffsverkehrs erfordern, werdet Ihr bestimmen, was im Hause Cornelis geschieht.«
»Es wird Colard de Fine nicht gefallen.«
5. Kapitel
G ENT , G RAVENSTEEN , 28. J UNI 1369
Der Audienzsaal überraschte sie in seiner Größe. Aimée versank vor dem Herzog in die übliche Reverenz und umklammerte heimlich ihren Ring.
»Ihr seid wie immer eine Freude für meine Augen, Aimée von Andrieu. Erhebt Euch. Die Feiern in Gent neigen sich dem Ende zu. Die Turniere sind geritten, die Jagden veranstaltet. Zur Mitte der nächsten Woche wird der Hof nach Paris aufbrechen.«
Der Herzog glaubte eine gewisse Enttäuschung in Aimées Gesicht zu erkennen. Prompt hob er die dünnen tiefschwarzen Brauen. Es konnte alles bei ihm bedeuten. Spott. Anteilnahme. Frage. Seine Züge ließen jede Deutung zu.
»Bedauert Ihr das Ende der Festlichkeiten oder die Trennung von Flandern und Ruben Cornelis?«, fragte er direkt.
Aimée sah ihm offen in die Augen. Was sollte sie antworten. Das Ende der Hochzeitsfeiern konnte sie nicht ehrlich beklagen. Ihre aufkeimenden Gefühle für Ruben Cornelis wollte sie dem Herzog nicht ungeniert gestehen. Sie entschied sich für Schweigen und senkte den Blick.
»Ihr seid eine Frau, die schweigend zu sprechen weiß, Aimée.« Der Herzog lachte anerkennend. »Ihr fühlt Euch wohl in Flandern, habe ich recht?«
Das konnte Aimée bejahen, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen.
»Könntet Ihr Euch vorstellen, für immer hier zu leben?«
»Wie wäre das möglich?«
»Es ist nie zu früh, die Zukunft zu planen. Eines Tages werde ich Flandern regieren. Ich brauche dort Verbündete und Gefolgsleute, die mir treu ergeben sind. Vertrauenswürdige Alliierte, wie es die Andrieus in Burgund sind.«
»Verstehe ich Euch richtig, Ihr wünscht eine Andrieu in Flandern?« Das grüne Aufblitzen in ihren Augen verriet, dass sie verstanden hatte, worum es dem Herzog ging. Aimée spürte plötzlich, wie sehr sein Vorschlag sie reizte. »Ihr schmeichelt mir zu sehr«, entgegnete sie vorsichtig. »Ihr benötigt Männer von Einfluss und Bedeutung in Flandern. Ich bin eine Frau.«
Herzog Philipps Auflachen endete in einem Seufzer.
»Ich sollte die Idee wirklich weit von mir weisen. Ihr werdet mir fehlen. Eure Anmut, Klugheit und Schönheit haben uns bereichert. Doch überlegt: Die Frau an der Seite eines einflussreichen Handelsherrn in Brügge ist ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor, Aimée. Männer wie Ruben Cornelis genießen in Flandern das gleiche Ansehen wie ein Edelmann in Frankreich. Freilich will ich nicht über Euren Kopf hinweg entscheiden. Was haltet Ihr davon, in Flandern zu bleiben?«
Aimée schwieg. Der Herzog hatte es ausgesprochen. Er schlug ihr eine Verbindung mit Ruben Cornelis vor.
»Euer Onkel Jean-Paul hat Euch mir anvertraut und mich gebeten, für Euer Wohl und Eure Zukunft zu sorgen«, sprach er weiter.
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