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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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den Umhängen muss sich ein verschnürtes Bündel befinden. Gib es mir bitte.«
    Das Aufflackern von Tatkraft erleichterte ihn. Er beeilte sich, ihren Wunsch zu erfüllen. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. In grobes Leinen gewickelt, mit Bändern eng verschnürt und dem Anschein nach vor langer Zeit verpackt, fand er ein Holzkästchen.
    »Was ist das?«, fragte er verblüfft.
    »Das Vermächtnis eines Cornelis.«
    »Wie kommt es hierher zu Euch?«
    Jean-Paul bemerkte, dass sich die Stimme seiner Mutter verändert hatte. In ihrem Gesicht las er etwas wie Furcht. Unmöglich. Furcht hatte sie nie gekannt.
    »Öffne bitte das Kästchen«, wies sie Jean-Paul knapp an. Es war eine Handbreit hoch, etwa so lang wie sein Unterarm und halb so breit. Schwarzes Ebenholz und angelaufene Silberbeschläge verrieten, dass bei seiner Herstellung besondere Sorgfalt aufgewendet worden war. Der Deckel klemmte, aber mit Hilfe seines Messers brachte Jean-Paul es auf.
    »Anscheinend handelt es sich um Urkunden und Aufzeichnungen. Hier ist auch ein versiegeltes Schreiben. Für Violante von Andrieu, Tochter des Thomas von Courtenay und der Margarete Cornelis, ist es beschriftet.«
    Die Tinte war im Laufe der Jahre verblasst, aber die Worte blieben lesbar. Er reichte es seiner Mutter mit fragendem Blick. Violante zögerte, danach zu greifen. Es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.
    »Piet Cornelis war der Vater meiner Mutter, die, wie du weißt, auch Margarete hieß. Er hat das Handelshaus Cornelis in Brügge gegründet. Wenn er der Großvater des jungen Mannes ist, den Aimée in Gent kennengelernt hat, dann ist er ein Verwandter.« Ihre Stimme wurde immer leiser.
    »Warum habt Ihr nie ein Wort davon gesagt, dass ein Teil unserer Familie in Brügge lebt?«, fragte Jean-Paul. »Es ist nicht Eure Art, Euch für einen bürgerlichen Handelsmann zu schämen.«
    »Ich schäme mich nicht für diesen Mann. Ich verachte ihn. Lies bitte trotzdem vor, was er schreibt. Ich muss es wissen.«
    Er brach das Wachssiegel und las.
    Tochter meiner Tochter. Nichts, was ich dir schreibe, macht die Dinge ungeschehen. Gott, vor dessen Richtstuhl ich bald treten werde, wird das Urteil über mich fällen. Er hat mich bereits auf Erden gestraft, indem er mir meine geliebte Frau und später auch die Tochter genommen hat. Nun bin ich alt und bereue zutiefst.
    Ich wollte mein Glück noch einmal erzwingen, aber ich versichere dir, ich wusste nicht, dass du meine Enkelin bist. An den Beginen habe ich mich schwer versündigt und bin sogar zum Mörder geworden. Ich lege das Haus Cornelis mit meinem Siegelring und meinen persönlichen Kontobüchern in deine Hände. Wer immer in Brügge dieses Erbe einfordert, muss beides besitzen. Gott sei mit dir, Violante von Andrieu. Wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich bezweifle, dass du für mich beten willst.
    Dein Großvater Piet Cornelis, Handelsherr zu Brügge. Gezeichnet am dritten Maitag des Jahres 1326.
    Violantes geschlossene Lider bewegten sich nicht, als Jean-Paul den Brief sinken ließ und erschüttert fragte: »Dieser Brief ist über vierzig Jahre alt. Warum habt Ihr nie das Kästchen geöffnet?«
    »Piet Cornelis ist ein Mörder. Er sagt es in diesem Dokument selbst.« Sie öffnete die Augen, begegnete dem verständnislosen Blick ihres Sohnes und schüttelte ablehnend den Kopf.
    »Nein, das muss dir genügen. Er hat mich zu tief verletzt, ich kann ihm nicht einmal nach all diesen Jahren verzeihen.«
    Jean-Paul legte den Brief auf den Tisch neben dem Kamin und ergriff die dünnen, unruhigen Hände seiner Mutter. Sie hielt mit unerwartet heftigem Druck dagegen.
    »Habt Ihr deshalb niemals von Euren flämischen Wurzeln gesprochen?«
    »Dein Vater wusste Bescheid. Er und sein Bruder Simon haben mir das Leben gerettet, das Piet Cornelis fast zerstört hätte. Ich wollte vergessen, aber das Vergessen ist mir nicht vergönnt.«
    »Vater hatte einen Bruder, der Simon hieß, verstehe ich das richtig?«
    Violante umklammerte Jean-Pauls Finger noch heftiger. »Ja, Simon von Andrieu. Er starb, ehe du zur Welt kamst.«
    »Dann habt Ihr meinen Bruder nach ihm benannt?«
    Violante sah ihn lange und nachdenklich an, ehe sie nickte. Wem half es, wenn sie die Lüge mit ins Grab nahm? »Dein Vater und ich haben Simon so getauft, weil es der Name seines Vaters ist. Simon ist der Sohn Simons«, sagte sie tonlos und fügte noch leiser hinzu: »Simon war Zisterziensermönch.«
    Jean-Paul fuhr

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