Die Stunde des Venezianers
hatte sie in Stellvertretung ihres Onkels Jean-Paul an Ruben übergeben und der Bischof ihre Hände zum Treuegelübde vereint. Ruben hatte mit tönender Stimme die Worte des Prälaten nachgesprochen und triumphierend gelächelt, als sie selbst leiser, fast zögernd ihre Antworten gab.
Der Ehevertrag wurde in der Sakristei bezeugt und unterschrieben. Als sie die Feder zur Seite legte, bemerkte sie das zufriedene Lächeln der Herzogin.
»Ich wünsche Euch von Herzen, dass Ihr ebenso viel Glück in Eurer Ehe findet, wie es mir beschieden ist«, sagte sie unerwartet gefühlvoll.
Aimée gewann den Eindruck, dass Erleichterung in ihren Worten schwang. Sie überließ es Ruben, den Dank für die Glückwünsche auszusprechen. Er tat es mit erkennbarem Stolz und strahlte vor Glück. Unauffällig berührte sie mit dem Daumen die Innenseite ihres Ringes. Wieso verspürte sie dieses jähe Gefühl von Verlust in einem Moment, in dem sie eigentlich glücklich sein sollte?
6. Kapitel
B URG A NDRIEU , 28. J UNI 1369
Sie ringt mit dem Tod!
Jean-Paul von Andrieu blieb erschüttert unter dem Türbogen stehen. Er war wie gelähmt. Seine Mutter kränkelte seit Aimées Abreise, aber erst jetzt begriff er, dass ihr Leben zu Ende ging. Sie stand im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Sie hatte Könige, Kriege und das Wüten der schwarzen Pest überlebt. Sie hatte den Mann, Söhne und Enkel zu Grabe getragen und dennoch nach jedem Schicksalsschlag die Kraft gefunden, für die, die sie brauchten, weiterzukämpfen. Sie war die Seele des Lehens. Dass auch sie sterblich war, traf ihn wie ein Schlag. Mit Aimée war nicht nur ihre Kraft, sondern auch ihr Lebensmut gegangen.
»Tritt näher, warum stehst du da und schweigst?«
Die körperliche Hinfälligkeit Violantes tat ihrer Autorität keinen Abbruch. Ihr Sohn bemühte sich, den Aufruhr seiner Gefühle zu kontrollieren.
»Ich wollte Euren Schlaf nicht stören, Mutter. Es gibt Neuigkeiten von Aimée. Ein Kurier des Herzogs von Burgund hat den Umweg über Andrieu gemacht, um einen Brief von ihr zu bringen.«
»Lies ihn mir bitte vor.«
Jean-Paul brach das Siegel, überflog die ersten Zeilen und sah mit erkennbarer Verblüffung auf.
»Aimée schreibt uns aus Flandern. Sie gehört zum Hofstaat der neuen Herzogin von Burgund. Die Hochzeit des Herzogs wird in Gent gefeiert, und …«
»Sie wird in Flandern gefeiert?«
»In Gent«, bestätigte er. »Der Herzog und Margarete von Flandern haben am neunzehnten Tag des Heumonats in der Kathedrale von Sankt Bavo geheiratet. Aimée war eine der Ehrendamen.«
»Gib mir den Brief«, forderte sie mit einem Anflug ihrer alten Energie.
Sie sah nicht mehr so gut wie früher, aber diese Zeilen wollte sie mit eigenen Augen lesen.
»Nun, das ist meine Aimée. Sie kritisiert den Prunk und die endlosen Feste. Sie meint, dass man die Zeit sinnvoller nutzen könnte«, lächelte sie.
Der Anflug von Heiterkeit verschwand bereits mit dem nächsten Satz.
»Ich habe einen Handelsmann aus Brügge getroffen, der Interessantes aus der Stadt zu erzählen weiß, in der Ihr einmal gelebt habt, liebste Großmutter.«
Jean-Paul hörte die vorlesende Stimme vorsichtiger und schärfer werden.
»Er sagt, seine Familie sei dem Beginenhof vom Weingarten seit jeher verbunden. Sein Großvater habe den frommen Frauen zu Lebzeiten reiche Stiftungen zukommen lassen. Entsinnt Ihr Euch aus Eurer Zeit an einen Handelsmann mit dem Namen Cornelis?«
»Mutter! Um Himmels willen, Mutter! Was ist mit Euch?«
Jean-Paul sah Violante bleich in ihre Kissen zurücksinken. Der Brief entglitt ihren Fingern. Mit geschlossenen Lidern, kaum atmend, war sie verstummt.
»Ich hole Hilfe!«
Schon halb an der Tür hielt ihn ein schwacher Ruf vom Alkoven zurück.
»Nein, bleib bitte. Warte. Gib mir Zeit. Das kommt zu unerwartet. Ich muss es erst begreifen.«
»Ihr habt Schmerzen«, vermutete Jean-Paul nach einem prüfenden Blick auf ihre angespannten Züge.
»Ja. Aber es sind Schmerzen der Vergangenheit, mein Sohn. Cornelis. Ich hatte gehofft, diesen Namen nie wieder hören zu müssen. Welch verhängnisvoller Irrtum. Hilf mir hoch, bitte.«
Jean-Paul stützte seine Mutter, damit sie sich wieder aufsetzen konnte. Es war das erste Mal, dass sie ihn in dieser Form um Hilfe bat. Erschrocken nahm er ihre Hinfälligkeit wahr. Sie wog kaum mehr als ein Kind.
»Ich muss mit dir reden, Jean-Paul«, sagte sie und deutete auf eine geschnitzte Truhe neben dem Kamin. »Öffne die Truhe, bitte. Tief unter
Weitere Kostenlose Bücher