Die Stunde des Venezianers
zusammen.
»Verurteilst du mich? Ich kann es dir nicht verdenken.«
»Niemals würde ich Euch verurteilen. Ich weiß nicht, was damals alles geschehen ist, und ich muss es auch nicht wissen. Für mich seid Ihr immer ein Vorbild und die beste Mutter, die man sich wünschen kann. Ihr werdet Simon geliebt haben, und dafür kann man keinen Menschen verurteilen. Meinem Vater wart Ihr eine gute Frau, und ich hatte nie das Gefühl, dass Ihr ihn nicht ebenfalls geliebt hättet.«
Ihre Blicke trafen sich, und Violante nahm schweigend eine Hand von Jean-Paul und barg ihr Gesicht darin. Die Kehle wurde ihm eng. Die Geste uneingeschränkter mütterlicher Liebe berührte ihn tief.
»Euer Großvater hat diesen Brief offensichtlich geschrieben, um sein Gewissen zu erleichtern. Lasst Gott urteilen.«
Violante ignorierte den unregelmäßigen Schlag ihres müden Herzens. Ihre Sorge galt Aimée. Sie musste gewarnt werden.
»Jean-Paul«, wandte sie sich lebhafter an ihren Sohn, »wenn ein Mensch in Brügge lebt, der den Namen Cornelis trägt, habe ich Angst um Aimée. Ich fühle es. Ich fürchte das Ungestüm ihrer Jugend. Du kennst sie. Sie ist impulsiv, und wenn ihr etwas eine Herzenssache ist, handelt sie spontan. Sicher habe ich einen Fehler gemacht. Als sie mich mehrmals gefragt hatte, woher ich Flämisch kann, glaubte ich ihre Wissbegier damit befriedigen zu können, dass ich sie die Sprache gelehrt habe. Ich hätte meine Enkeltochter besser kennen sollen. Sie gleicht mir zu sehr. Sie wird den Dingen nachgehen und wissen wollen, was es damit auf sich hat, dass ich das Flämische beherrsche. Der Reiz des Fremden wird sie womöglich eine Dummheit begehen lassen …«
Jean-Paul unterbrach sie, um sie zu beruhigen. Die Befürchtungen seiner Mutter hielt er für übertrieben. Er war ein Mann der Tatsachen. Von Ahnungen, Vermutungen und Befürchtungen hielt er nicht viel, doch die Angst in Violantes Stimme, die sich nicht so aufregen durfte, rechtfertigte die Ungehörigkeit, seine Mutter nicht ausreden zu lassen.
»Was kann ich tun, um Euch die Sorgen zu nehmen, Mutter?«
»Ich werde Aimée schreiben. Sie muss wissen, mit wem sie es bei einem Cornelis zu tun hat. Du wirst ihr diesen Brief zusammen mit dem Kästchen bringen. Aimée ist die älteste Urenkelin von Piet Cornelis, sie hat ein Anrecht auf dieses Erbe. Es wäre unrecht, es ihr zu verwehren. Nur sie kann entscheiden, ob sie von diesem Erbe Gebrauch macht oder es vielleicht weitergibt. Sag ihr, was du von mir jetzt weißt, aber achte darauf, dass nur sie von unseren verwandtschaftlichen Beziehungen zum Haus Cornelis erfährt. Ich will nicht, dass sie am Hof des Herzogs bekannt werden, es würde Aimées Ansehen vielleicht schaden. Hilf mir bitte auf. In der Lade am Tisch sind Tinte, Feder und Papier.«
Sowenig Jean-Paul die Ängste seiner Mutter um Aimée teilte, sosehr stimmte er ihr zu, dass es richtig war, ihr diesen Teil der Geschichte ihrer Familie nicht länger vorzuenthalten. Sie hatte ein Recht darauf, mehr noch als er selbst.
Er half ihr gerne, den Brief zu schreiben. Er trug sie, in Decken gehüllt, zum Tisch, half ihr auf den hochlehnigen Stuhl, stützte sie mit Kissen und schob ihr den Fußhocker zurecht. Dann zog er sich in die Fensternische des Raumes zurück. Nahe genug und doch in diskreter Entfernung, um bereit zu sein, wenn sie es benötigte.
Wie oft hatte er ihr dabei zugesehen, wie sie die Bücher des Lehens führte, Nachrichten schrieb oder Botschaften prüfte. Bis zu Aimées Abreise war kein Scheffel Weizen auf Andrieu verkauft und kein Fell gebalgt worden, von dem sie nichts wusste. Danach hatte sich alles geändert. Obwohl es ihr Wille gewesen war, dass ihre Enkelin Andrieu verließ und an den Hof des Herzogs ging, hatte der Abschied die rüstige Frau in eine hinfällige Greisin verwandelt.
Das leise Kratzen der Feder, untermalt von den schweren Atemzügen seiner Mutter, begleitete sein Grübeln. Die körperliche und geistige Anstrengung, die die Niederschrift des Briefes erforderte, kostete sie letzte Kraftreserven. Doch es war die Sorge um Aimée, die sie bisher am Leben erhalten hatte und die ihr auch jetzt noch Kraft gab.
Die Feder fiel aus ihren Händen und rutschte über die Tischkante zu Boden.
»Mutter!«
Jean-Paul kam gerade rechtzeitig, um die schwankende Gestalt zu halten.
»Schluss mit diesem Brief«, befahl er. »Ihr mutet Euch zu viel zu. Lasst Euch wieder zu Bett bringen.«
»Er ist ohnehin fertig. Du musst ihn bitte nur
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