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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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Geländer in das obere Stockwerk. Auf das schwarz-weiße Schachbrettmuster des Steinbodens fielen Lichtpunkte in den Farben der bunten Fenster.
    Einen Atemzug lang vergaß sie die Menschen um sich herum, die misstrauischen Blicke, die Ablehnung. Wenigstens das Haus hieß sie willkommen. Seit sie die Burg von Andrieu hinter sich gelassen hatte, war sie überall nur zu Gast gewesen, aber Ruben gab ihr wieder ein Zuhause. Sie wandte sich ihm mit einem dankbaren Lächeln zu.
    Als es eine Tür zwischen ihr und dem Rest des Haushaltes gab, war sie froh, Ruben sagen zu können, was sie bedrückte.
    »Deine Mutter kann mich nicht ausstehen, und dein Vetter würde mich am liebsten in den nächsten Kanal werfen.«
    »Glaube mir, sie werden sich an dich gewöhnen«, versuchte Ruben, sie zu beruhigen.
    Aimée hörte ihm seinen Ärger an. Es hatte keinen Sinn, ihn zu bedrängen, wenn er nicht mit sich selbst im Reinen war. Das eine oder andere Mal hatte sie das Aufflackern seines Jähzorns bereits erlebt, auch wenn er sich noch nie gegen sie gewandt hatte.
    Sie zwang sich zu Geduld und betrachtete einen Wandteppich, der die Verkündigung Mariens darstellte. Unwillkürlich dachte sie an den Herzog. Er schätzte Meisterwerke wie dieses, und vermutlich würde er nicht zögern, Ruben ein Kaufangebot zu machen.
    Sie nahm den Schleier von ihren Haaren und zog die Nadeln aus den blonden Flechten. Da war noch die Frage nach der anderen Frau.
    »Wer ist diese Gleitje?«
    »Vergiss den Namen. Ihrer Mitgift wegen haben wir eine Verbindung mit ihr kurz in Erwägung gezogen, aber ebenso schnell verworfen. In einem Handelshaus wie dem unseren gibt es immer wieder vorübergehende Engpässe, die zu allen möglichen Überlegungen führen. Gleitje braucht dich nicht zu bekümmern.«
    Aimée dachte an ihren Brief nach Andrieu. Sie hatte ihrer Großmutter alles bis ins Kleinste geschrieben und auch ihre ganz persönlichen Empfindungen mitgeteilt. Und sie hatte darum gebeten, ihren Onkel damit zu beauftragen, ihre Mitgift auf den Weg nach Brügge zu schicken. Hoffte Kuben jetzt auf ihre Mitgift, um seine Engpässe zu beheben?
    »Du hast nie von Schwierigkeiten gesprochen«, sagte sie vorsichtig.
    »Ich werde es auch jetzt nicht tun.«
    Ruben zog mit der Fußspitze einen Stuhl näher und ließ sich mit ausgestreckten Beinen darauf nieder. Dann klopfte er auffordernd auf seine Oberschenkel.
    »Setz dich, Liebste. Ich bin sicher, es fällt uns ein vergnüglicherer Zeitvertreib ein, als über meine Verwandtschaft und dumme Probleme zu reden.«
    Aimée zögerte. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Ruben sie als Besitz betrachtete und wann immer er wollte davon Gebrauch machte. Der Beischlaf war nicht mehr so qualvoll wie beim ersten Mal, aber warum er so viel Genuss dabei empfand, blieb ihr nach wie vor ein Rätsel. Sie hatte gehofft, in Brügge den Rat und Beistand einer Mutter zu finden. Sophia war nicht die Frau, die ihr Zuneigung und Verständnis entgegenbringen würde. Das war eindeutig klar, und sie würde den Teufel tun, sie mit persönlichen Problemen zu belästigen, oder sie um irgendeinen Rat zu bitten.
    »Ich bin staubig, meine Kleider stinken nach Pferd, und die Sonne ist noch nicht einmal untergegangen.«
    »Komm!«
    Ruben griff blitzschnell nach ihrem Handgelenk und zog Aimée in seine Arme. Sie unterdrückte ihren Protest. Sein Ungestüm hatte einen Vorteil. Es würde nicht lange dauern.
    Colard warf die Tür seiner Schlafkammer hinter sich ins Schloss und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Holzfläche. Er wollte nicht zur Wand sehen. Nach ein paar tiefen Atemzügen trat er ans Fenster und öffnete es.
    Das Sonnenlicht fiel genau auf die Dame mit der Lilie. Das war es! Jede Linie ihres Antlitzes zeigte Ähnlichkeit mit den Zügen der Frau, die Ruben geheiratet hatte. Zwar waren die Farben des Bildes verblasst, aber die noch erkennbar grünen Augen, die Linien um das stolz geschwungene Kinn, die Haltung des Kopfes und das blasse Gold der Haarfarbe glichen sich unverkennbar. Ein Unterschied lag allein darin, dass das Mädchen auf dem Bild sanft wirkte und scheu. Aimée strahlte Stolz und Eigenwilligkeit aus.
    Colard nahm die Holzplatte von der Wand, verwundert darüber, wie leicht sie war. Erst als sich die geschnitzten Ranken des Rahmens in seine Hände gruben, wurde ihm klar, dass er das Bild so gewaltsam gepackt hatte, als wolle er es zerbrechen. Der Schock wollte nicht nachlassen.
    Rubens Frau glich der Dame

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