Die Stunde des Venezianers
hat wie ihr Mann, hat sie um den Verstand gebracht.«
»Sie hat mich die Treppe hinabgestoßen.«
Colard senkte den Kopf. »Glaubt mir, sie wusste nicht, was sie tat. Das entschuldigt weder den schrecklichen Vorfall, noch macht es etwas ungeschehen, aber sie war völlig außer sich. Wir sollten ihr Verständnis entgegenbringen, auch wenn sie in ihrer krankhaften Sohnesliebe meistens ungerecht war.«
Ein Schatten flog über Aimées Züge.
»Colard, ich habe auch ein Kind verloren.«
»Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, aber weder Entschuldigungen noch die Tränen, die Sophia aus Reue und Kummer weint, werden dieses Kind wieder ins Leben zurückrufen. Es war Sophias Enkel. Sie wollte das nicht.«
»Ich glaube Euch, dass es ein Unglück war«, erwiderte Aimée tonlos, »aber noch kann ich das Ganze nicht erfassen.«
Colard sah ihre Tränen. Versucht, sie ihr zu trocknen, verschränkte er die Finger ineinander. Er musste sich zur Zurückhaltung zwingen. Wie sollte ausgerechnet er sie trösten können und um Nachsicht bitten. Zu der Dame mit der Lilie hatte er von jeher diese unerklärbare Zuneigung empfunden. Wie diese Zuneigung sich auf Aimée übertrug, verwirrte ihn. Sie litt, sie kam ihm fragil vor wie venezianisches Glas. Eine falsche Berührung, und es würde zerbrechen.
»Ich würde gerne alles tun, Euch zu helfen«, sagte er hilflos. Aimée bemerkte seine ehrliche Anteilnahme, seine Betroffenheit.
»Ihr müsst Euch keine Vorwürfe machen, Colard. Ihr habt keine Schuld.«
»Eben doch. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Contarini seine verheerende Nachricht im Treppenhaus überbringt, wo jeder Ungebetene Zutritt hat.«
»Ich suche keine Schuldigen, Colard. Ich suche Hoffnung. Nur so können wir weiterleben.«
»Bei aller Hoffnung, Aimée, ich fürchte um Sophias geistige Gesundheit.«
Aimée wandte den Kopf ab und sah zur Holzwand, hinter der ein anderer Kranker lag. Colard wagte nicht, ihre Gedanken zu unterbrechen. Er ahnte, dass sie mit sich kämpfte, dass es ihr nicht leichtfiel, einen Frieden mit Sophia zu finden.
»Sie wird sich fassen«, sagte sie schließlich und sah ihn wieder an. »Aber es wird seine Zeit dauern, bis sich die Wunden schließen, bis wir alle unser Schicksal in Demut ertragen können. Wir sind eine Familie, Colard. Wir müssen in Zeiten der Trauer und der Not zusammenstehen. Wie sonst sollen wir Halt finden?«
Colard ergriff Aimées Hand, die sie ihm in einer versöhnlichen Geste entgegenhielt.
»Ich weiß nicht, wie wir es ohne Ruben schaffen werden. Wir haben das Leben seit seiner Geburt geteilt. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Ich habe mich über ihn geärgert, aber ich habe ihn geliebt wie einen Bruder.«
»Man musste ihn lieben«, flüsterte Aimée und umklammerte seine Finger. »Egal was er tat, liebenswert war er.«
»Wie wird es weitergehen, Aimée?«
»Zusammen werden wir es schaffen.«
Zusammen? Das Wort besaß die Zauberkraft der Hoffnung.
»Zuerst einmal müsst Ihr gesund werden, Aimée«, sagte er behutsam. »Wie ich sehe, seid Ihr in den besten Händen bei den frommen Frauen. Es war eine gute Eingebung von Domenico Contarini, Euch unverzüglich in die Infirmerie zu bringen.«
»Dankt ihm bitte in meinem Namen, wenn Ihr ihn wiederseht«, antwortete Aimée. »Er hat mir wohl das Leben gerettet, aber er soll auf jeden Fall davon Abstand nehmen, meinen Onkel von den Ereignissen zu benachrichtigen. Wenn ich es für notwendig halte, werde ich ihm selbst die Nachricht zukommen lassen.«
Ihre Stimme wurde schwächer, und Colard erinnerte sich der Warnung der Begine. Aimée brauchte Ruhe.
»Ich danke Euch. Kann ich noch irgendetwas tun? Soll ich das Mädchen schicken, damit sie den Schwestern bei Eurer Pflege zur Hand geht?«
»Bitte nicht. Habt Verständnis dafür, dass ich fürs Erste niemanden sehen will. Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid. Das Gespräch mit Euch hat mir gutgetan, aber ich bin jetzt unendlich müde, erschöpft. Schön, dass wir ein gutes Einvernehmen miteinander gefunden haben.«
Colard legte die Hand, die er immer noch festhielt, vorsichtig zurück und verneigte sich vor Aimée. Sie sah es nicht mehr. Sie hatte die Augen schon geschlossen, und das gab ihm Zeit, seinen Blick länger als üblich auf ihr ruhen zu lassen, ehe er sich abwandte und die Infirmerie verließ.
Colard war noch ganz in seinen Gedanken versunken, als Anselm Korte ihm vor der Liebfrauenkirche unhöflich den Weg vertrat.
»Gott zum Gruß in diesen
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