Die Stunde des Venezianers
dass Ihr mir mehrmals die Woche Eure Aufwartung macht, Messer Contarini. Mein Onkel hat seine Sorge um mich übertrieben. Es geht mir gut, und ich übe mich in Geduld, bis mein Mann wieder nach Hause kommt.«
»Ich muss leider dringend mit Euch sprechen. Lasst uns bitte ins Haus gehen. Es gibt Neuigkeiten, die ich Euch nicht im Hof überbringen möchte.«
Aimée bat ihn etwas widerwillig ins Haus. Sie schickte die Köchin und Lison, sich um die Einkäufe und Lieferungen zu kümmern, ehe sie auf die Treppe deutete.
»Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
»Messer Contarini?«
Colard eilte hinter ihnen in die Halle. Er sah es nicht gerne, wenn Aimée allein mit dem Lombarden blieb. Er hatte eine Art, sie zu betrachten, die ihm missfiel.
»Es tut mir leid, dass ich Euch habe warten lassen. Nun stehe ich zu Eurer Verfügung«, wandte er sich an ihn. »Was gibt es so Dringendes?«
Aimée drehte sich auf halber Höhe der Treppe beunruhigt um.
»Habt Ihr die Neuigkeiten aus England schon vernommen?«, fragte Contarini und kam nach oben.
Das Wort England alarmierte Aimée. Alle sorgsam verdrängten Ängste stiegen in ihr auf. Was gab es Neues aus England?
»Das kommt darauf an.« Colard reagierte mit angestrengter Vorsicht. »Vielleicht verfügt Ihr ja über bessere Kurierverbindungen.«
»Wir sollten uns in Euer Kontor begeben, de Fine.«
Aimées Herz raste. Die Spannung wurde unerträglich. Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht. »Redet!«, forderte sie heiser und blieb erneut stehen.
»Der sintflutartige Regen wurde auf dem Meer von ungewöhnlich heftigen Stürmen begleitet.«
Colard begriff vor ihr, was Contarini sagen wollte.
»Die Koralle? Bei Gott, nicht die Koralle! Das kann uns der Himmel nicht auch noch antun.«
Aimée hatte Colard noch nie so außer sich erlebt. Sein bleiches Gesicht kontrastierte unheilvoll zu den Zügen des Lombarden, die zunehmend dunkler wurden. Furcht sprang sie an wie ein bedrohliches Tier.
»Was ist geschehen? Habt Einsehen, Messer Contarini. Sagt es auf der Stelle«, stammelte sie.
»Nun denn, wenn Ihr es unbedingt zwischen Tür und Angel hören wollt: Plankenreste des Schiffes, Teile der Galionsfigur und zwei tote Seeleute wurden vor Dunwich an die Küste Englands gespült. Die Koralle ist im Sturm zerschellt. Es gibt keine Überlebenden.«
Aimée tastete blind nach dem Treppengeländer. Sie wappnete sich für den Schmerz, aber noch blieb er aus. Ihr Körper wurde von einer lähmenden Taubheit befallen.
Ruben kommt nicht mehr nach Hause. Ruben ist tot. Mein Kind wird keinen Vater haben.
Colard nahm Contarini an den Schultern und schüttelte ihn so heftig, dass ihm der Hut vom Kopf rutschte. Er wehrte sich mit keiner Geste gegen den Übergriff.
»Es ist unmöglich. Kapitän Ballard hat mehr als einen Sturm überstanden!«, brachte er fast tonlos hervor.
»Meine Nachrichten sind leider zuverlässig«, sagte Contarini teilnahmsvoll, als Colard in jäher Einsicht den Kopf senkte und die Hände von ihm nahm. »Es sieht so aus, als sei das Handelsschiff schon unmittelbar nach seinem Auslaufen zwischen Flandern und England in Seenot geraten.«
Aimée stand stumm.
»Und die Ladung des Schiffes?«
»Ihr werdet abschreiben müssen, was Ihr in England zu verkaufen hofftet, Meister de Fine. Das Meer hat alles verschlungen. Menschen, Schiff und Handelsgüter.«
Dann waren auch die Waffen untergegangen und für immer auf dem Meeresgrund verschwunden. Der Gedanke blitzte aus dem Dunkel in ihr auf. Der Himmel hat eingegriffen und Rubens Hochverrat verhindert! Mein Kind ist in Sicherheit! Ohne es zu bemerken, faltete sie die Hände.
»Es ist zu spät für deine Gebete, Burgunderin. Du hast ihn getötet!«
Sophia!
Ausgerechnet diesen Augenblick hatte sie gewählt, ihre Räume zum ersten Mal wieder zu verlassen. Aimée starrte in das hassverzerrte Gesicht ihrer Schwiegermutter. Sie hatte sie nicht kommen gehört.
»Tante Sophia!«
Colard trat ihr eilig entgegen, aber sie schob ihn unerwartet kräftig zur Seite.
»Mörderin! Hure! Hexe!«, kreischte sie und erhob ihren Gehstock gegen Aimée.
»Ihr seid verrückt, was wollt Ihr …«
Sophias Ebenholzstock traf Aimée mit voller Gewalt am Kopf. Sie taumelte mit einem Schmerzenslaut rückwärts, verlor den Halt und stürzte. Beim Aufprall auf den Steinboden der Halle am Ende der Treppe verlor sie die Sinne. Sophia lachte gellend, während Colard hinab zu Aimée eilte. Sie lag reglos, mit ausgebreiteten Armen, auf den
Weitere Kostenlose Bücher