Die Stunde des Venezianers
sich um und entdeckte die in sich versunkene Gestalt einer betagten Begine, die ihr halblautes Gespräch mit der Mutter Gottes mitgehört hatte. Sie erhob sich ein wenig unbeholfen. Noch spürte sie die Folgen des schweren Sturzes.
»Komm näher, mein Kind, damit ich dich besser sehen kann«, forderte die Begine sie auf. »Meine Augen sind nicht mehr die besten, und mein Gedächtnis spielt mir manchmal Streiche, aber ich kann immer noch gut zuhören. Vielleicht möchtest du dich aussprechen und deinen Kummer bei jemandem ausschütten.«
Aimée folgte widerstrebend der Aufforderung. Unter der kompliziert gefalteten Faille , der weißen Beginenhaube, sah ihr das zerfurchte Gesicht einer uralten Frau entgegen, die tiefliegenden Augen jedoch machten immer noch einen hellwachen Eindruck.
»Komm noch ein Stück näher. Ich erkenne nur genau, was ich in Reichweite eines Armes vor mir habe. Deine Stimme klingt jung. Warum klingt sie so verzweifelt?«
Aimée tat ihr den Gefallen.
»Wer bist du, Mädchen?«
»Aimée Cornelis«, sagte sie. »Die Witwe des Kaufmannes Ruben Cornelis.«
»Was tust du bei uns? Willst du eine unserer Schwestern werden?«
»Nein.« Aimée schüttelte nachdrücklich den Kopf. Auch wenn sie noch so verzweifelt war, daran hatte sie nie gedacht. »Eure Schwestern haben mich gepflegt, weil ich bei einem Sturz mein Kind verloren habe.«
Die alte Begine schüttelte den Kopf und sah sie unverwandt an.
»Du hast eine ganz und gar ungewöhnliche Ähnlichkeit mit einer jungen Begine, die vor langer Zeit im Weingarten lebte«, stellte die Greisin schließlich fest. »Sie war ein ausnehmend begabtes junges Mädchen. Ich habe sie nie vergessen, denn ich habe ihre Begabung und ihre Fähigkeiten nicht erkannt und gefördert, worunter ich noch heute leide.«
»Man sagt, ich sehe meiner Großmutter sehr ähnlich«, antwortete Aimée. »Sie hat ihre Jugend im Beginenhof vom Weingarten verbracht. Habt Ihr sie vielleicht gekannt und seht deshalb die Ähnlichkeit mit mir?«
»Es ist eine Last, so alt zu werden. All die Gesichter, all die Namen, die schon vergessen sind …«
»Meine Großmutter hat mir einmal von einem Brand bei den Wollschuppen erzählt …«
Ein Ruck ging durch die Greisin, und ihre Aufmerksamkeit kehrte zurück.
»Lieber Gott! Nie kann ich diese Nacht vergessen. Das Mädchen wollte damals seine Pflegemutter retten und kam in den Flammen um. Ich hätte ihren Tod verhindern können, aber ich war voller Eifersucht. Ich neidete ihr die Aufmerksamkeit und die Liebe der Maestra.«
Aimée war sich immer sicherer, das Mädchen, von dem die alte Begine sprach, musste ihre Großmutter gewesen sein. Sie ergriff ihre faltigen Hände.
»Sie ist nicht umgekommen. Sie war meine Großmutter«, sagte sie sanft. »Und Ihr müsst Euch auch keine Vorwürfe machen. Sie hat Euch verziehen, denn sie hat nur Gutes über die Jahre erzählt, die sie im Beginenhof gelebt hat. Ehe ich Ruben Cornelis geheiratet habe, war ich Aimée von Andrieu, Enkelin der Violante von Andrieu. Bei meiner Taufe hat sie mich in den Armen gehalten und meine Namen ausgewählt: Aimée Marguerite Ysee. Sie hat mir einmal anvertraut, dass sie im Beginenhof den Namen Ysee trug.«
»Sie lebt?«
Die verwirrenden Neuigkeiten waren erkennbar zu viel für die alte Begine. Aimée nahm sie kurz entschlossen in den Arm.
»Meine Großmutter hat mir von der Nacht erzählt, in der die Wollschuppen brannten. Sie kam nicht um, sie wurde entführt, und es gelang ihr mit Hilfe meines Großvaters und seines Bruders, aus Brügge zu fliehen. Sie ist erst vor wenigen Wochen gestorben. Gott hat ihr ein langes und erfülltes Leben geschenkt. Wollt Ihr mir Euren Namen verraten?«
»Ich war die Schwester Alaina. Eure Großmutter hat mich verabscheut.«
»Das glaube ich nicht. Sie sagte stets, sie habe viel von Schwester Alaina gelernt. Ich glaube, sie hat Euch respektiert und geachtet.«
Eine junge Begine eilte den Hauptgang der Kirche entlang.
»Schwester Alaina, da seid Ihr ja«, rief sie erleichtert und kam näher.
»Hatte sie wieder einen Schwächeanfall? Sie ist die älteste Begine unserer Gemeinschaft. Sie weiß so viel zu berichten, aber manchmal ist sie auch verwirrt und ein wenig eigensinnig«, wandte sie sich an Aimée.
Aimée half Alaina beim Aufstehen und beruhigte die besorgte Schwester mit einem Lächeln.
»Sorgt Euch nicht. Ich habe eine kluge Frau in ihr kennengelernt. Ich konnte kein Anzeichen von Verwirrung bemerken.«
»Ich
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