Die Stunde des Venezianers
Salomon unsere Totengräber sein. Wie viele von Rubens Schuldscheinen sind in Euren Händen?«
»Alle.«
»Wann werdet Ihr sie präsentieren?«
»Das hängt ganz von Euch ab, de Fine.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Beunruhigt Euch nicht. Niemand wird Euch bedrängen, solange Aimée Cornelis keine Entscheidungen treffen kann. Seht zu, dass Ihr die Tagesgeschäfte am Laufen haltet. Ich werde dafür Sorge tragen, dass ich Euch ein paar Maklerdienste zuschanzen kann, wenn die Galeeren aus Venedig eintreffen. Das wird Eure finanzielle Situation vorerst bessern.«
Da der gesamte Handel in Brügge nach Vorschrift des Magistrats in den Händen städtischer Bürger liegen musste, waren ausländische Importeure auf die Vermittlung eines ansässigen Kaufmannes angewiesen, um ihre Geschäfte zu tätigen. Derlei Maklerdienste wurden mit einem Prozentsatz des erzielten Gewinns entlohnt. Die bekannten Handelsmakler hüteten eifersüchtig ihre Kontakte im Hafen und in den fremden Faktoreien. Colard hatte bisher vergeblich versucht, das eine oder andere Maklergeschäft zu ergattern.
»Mir ist klar, dass Ihr den Ruf des Hauses Cornelis nicht aus christlicher Nächstenliebe schützt«, sagte er Domenico auf den Kopf zu. »Was führt Ihr im Schilde?«
»Ihr werdet es rechtzeitig erfahren. Gehabt Euch wohl, hier trennen sich unsere Wege.«
Colard verzichtete auf einen Gruß. Er sah dem Bankier nach und schlug noch wütender nach den lästigen Schmeißfliegen. Ganz Brügge hatte sich offensichtlich gegen ihn verschworen.
Abraham ben Salomon reagierte ungehalten, als er von Domenicos Entscheidung erfuhr.
»Das nenne ich denn doch die Freundschaftsdienste übertreiben«, murrte er. »Was ist los? Ihr wolltet das Haus Cornelis übernehmen, um neben der Bank Eurer Familie ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Was ist aus diesen Plänen geworden? Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, auf den wir seit Monaten hingearbeitet haben.«
»Wir warten ab«, befahl Domenico. »Ich weiß, was ich tue. Vor allen Dingen bin ich dem Grafen Andrieu einiges schuldig. Deshalb werde ich auf keinen Fall gegen das Handelshaus vorgehen, während seine Herrin im Hospital der Beginen um ihr Leben ringt.«
Abraham schüttelte fassungslos den Kopf.
»Nie hätte ich gedacht, dass Ihr ein Geschäft wegen einer Frau aufgebt. Seit wann erlaubt Ihr dem Gefühl den Sieg über den Verstand?«
»Ihr habt sicher keinen Grund, an meinem Verstand zu zweifeln oder meine Gefühle geringzuschätzen«, entgegnete Domenico. »Habt Ihr den Jungen schon vergessen, der zwischen den Grabsteinen des zerstörten Judenfriedhofs von Reims seinen Gott verflucht hat?«
Abraham wich Domenicos Blick aus und zupfte verlegen an den Barthaaren, die er seit einigen Tagen auf modische Form gestutzt trug. Er war sich seiner Dankesschuld durchaus bewusst.
»Verzeiht, aber mir war nicht klar, warum Ihr auf diese Frau solche Rücksicht nehmt.«
»Ich wollte, ich könnte es Euch sagen, Abraham ben Salomon. Ich weiß nur, dass ich noch nie einer Frau wie ihr begegnet bin.«
23. Kapitel
B RÜGGE , 10. S EPTEMBER 1369
Aimée entzündete ihre Kerze. Das Flackern der Opferlichter tanzte über die bunte hölzerne Muttergottesfigur, die mit dem linken Arm ihren Sohn hielt.
Ihr eigenes Kind hatte keine Chance bekommen, ausgetragen zu werden und zu leben. Ob Knabe oder Mädchen. Sie hatte ihr Kind und den Mann verloren.
Ruben war in sein Verhängnis gelaufen, und sie verspürte neben der Trauer auch das beunruhigende Gefühl der Erleichterung. Sie hatte einen Fehler gemacht, aus Ahnungslosigkeit, aus blinder Liebe? Sie schämte sich für ihre zwiespältigen Empfindungen so sehr, dass es auch den Frauen aufgefallen war, die sie in der Infirmerie gepflegt hatten. »Geht zur Madonna vom Weingarten«, hatte ihr eine mütterliche Begine im Krankensaal geraten. »Es wird Euch guttun, wenn Ihr endlich dieses Bett verlasst. Die Madonna wird Euch Trost geben.«
Aimée hatte den Krankenkittel gegen ihre Kleider eingetauscht und sich hinausgewagt. Der von mannshohen Mauern umschlossene Beginenhof war eine friedliche Insel im betriebsamen Brügge. Ein breiter Weg führte vom Hospital zur Kirche, deren zierlicher Holzturm sich hoch über die Mauern und die Dächer der Beginenhäuser erhob. Der Beginenhof war eine Stadt in der Stadt.
»Hilf mir, Heilige Mutter«, betete sie ebenso verzweifelt wie aufbegehrend. »Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll.«
»Es liegt an dir, mein Kind.«
Aimée wandte
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