Die Stunde des Venezianers
danke dir«, sagte die Greisin. »Du wirst einen Weg aus deinem Kummer finden. Du musst ihn langsam und Schritt für Schritt gehen. Tue erst das Notwendige, dann das Mögliche …«
»… und plötzlich schaffst du das Unmögliche«, beendete Aimée den Satz. »Wenn mir eine Aufgabe zu schwierig erschien, hat mich meine Großmutter stets mit diesen Worten des heiligen Franz von Assisi getröstet.«
»Es ist also wahr, du bist es wirklich.«
Alaina zeichnete mit zitternden Fingern ein Kreuz auf Aimées Stirn, dann ließ sie sich von der jungen Begine begleiten.
Aimée sah ihnen nach und atmete tief durch. Die Begegnung mit der Vergangenheit ihrer Großmutter hatte ihr Kraft geschenkt.
Mit einem Male fühlte sie sich stark genug, den Kampf mit dem Leben wieder aufzunehmen. Sie durfte nicht in Trauer und Selbstmitleid versinken. Es war an der Zeit, ins Haus Cornelis zurückzukehren.
24. Kapitel
B RÜGGE , 14. S EPTEMBER 1369
Zurückgekehrt in das Haus am Kanal wurde Aimée sich in vollem Umfang ihrer Witwenschaft bewusst. Sie war allein. Es gab niemanden, der ihr half, die Probleme zu lösen, die sich gleich einem Berg vor ihr auftürmten.
Wie konnte sie das Handelshaus retten? Und wenn es ihr gelang, in welche Zukunft konnte sie es führen? Zwar stammte sie in direkter Linie von Piet Cornelis ab, aber sie würde keinen Erben in die Welt setzen. Der Gedanke daran, noch einmal zu heiraten, war ihr unvorstellbar.
Colard war kein direkter Nachfahre der Familie Cornelis. Sogar wenn er einmal heiratete, würden seine Kinder nicht erbberechtigt sein. Für wen und wozu also die Anstrengung?
Sollte sie nicht besser ihren Onkel benachrichtigen und nach Andrieu, in die Sicherheit ihrer Familie zurückkehren?
Was hätte ihre Großmutter wohl gesagt?
Sie beantwortete es sich selbst. Aimée, du bist jung, würde sie sagen. Verliere dich nicht. Das Schicksal hat nicht vorgesehen für dich, einfach davonzulaufen. Du bist stark. Beweise deine Stärke. Auch ich habe gekämpft, obwohl ich meinen Sohn und meinen Mann verloren habe. Du musst um das Überleben des Hauses Cornelis kämpfen. Du weißt nicht, was die Zukunft für dich bereithält.
Aimée stand auf und sah aus dem Fenster in den Nachthimmel, der sich über der Stadt spannte. Ein Stern fing im Westen mit besonders hellem Flimmern ihren Blick. Sie straffte ihre Schultern. Genau das würde ihre Großmutter gesagt haben, dessen war sie sich sicher.
Sie fixierte den Stern, der ihr vorkam, als würde er allein für sie leuchten, und sagte laut: »Morgen packe ich es an, Großmutter. Ich werde dich nicht enttäuschen. Du wirst mir immer ein Beispiel sein.«
»Wo ist Colard?«, fragte sie am nächsten Morgen Joris, der wie immer im Kontor an seinem Pult stand.
»Bei den Florentinern. Unter den Arkaden ihrer Faktorei treffen sich Makler und ausländische Kaufleute, um ihre Geschäfte in Brügge abzuwickeln. In der letzten Woche ist es ihm gelungen, einige vielversprechende Kontrakte zu schließen. Wir haben einen Verbündeten, der ein gutes Wort für uns einlegt.«
»Domenico Contarini. Was verlangt er?«
»Woher wisst Ihr das?«
»Ich muss nur zwei und zwei zusammenzählen. Unter den Arkaden handeln ausschließlich venezianische Makler und Kaufleute. Domenico Contarini ist Venezianer.«
Colard war eingetreten und gab die Antwort:
»Nichts verlangt er.« Er schloss die Tür hinter sich und fügte hinzu: »Macht Euch keine Gedanken. Alles kommt in Ordnung.«
»Ihr solltet es mir bitte überlassen, ob und welche Gedanken ich mir mache, und mir vor allem unliebsame Wahrheiten nicht vorenthalten, Colard. Wie ernst ist unsere Lage wirklich? Ich brauche unbedingt eine Auflistung aller Verpflichtungen und eine offene Auskunft über den genauen Bestand unseres Vermögens.«
»Müsst Ihr Euch derart überstürzt um alle Einzelheiten kümmern? Ihr habt Euren Mann verloren. Nehmt Euch doch Zeit, um ihn zu trauern.«
»Unglück und Leid werden nicht geringer, wenn wir tatenlos die Hände in den Schoß legen, Colard. Ich stehe in der Verpflichtung und in der Verantwortung, das Haus Cornelis wieder zu Rang und Ansehen zu bringen. Ich bin mir bewusst, dass das eine gewaltige Aufgabe ist, aber ich will es mit meiner ganzen Kraft versuchen, und Ihr steht mir sicher bei?«
»Ich vermag nicht zu sagen, ob ein Kraftakt Erfolg haben kann.« Colard gab sich einen erkennbaren Ruck. »Ihr wollt also wissen, wie es um uns steht? Schonungslos gesagt: Was in unseren Lagern von
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