Die Stunde des Venezianers
ausgeführt, die in einem bestimmten Stadtteil Londons wohnen«, erklärte die Herzogin. »In erster Linie werden die Chorröcke und Messgewänder der Kirchenfürsten mit solchen Stickereien geziert. Die Motive werden von Musterzeichnern auf Stoff vorgezeichnet und anschließend mit winzigen Stichen ausgestickt. Der Herzog hat mir dieses kunstvolle Medaillon aus Aquitanien mitgebracht.«
»Es ist bestrickend schön, prachtvoll und meisterlich gearbeitet«, bewunderte Aimée in ehrlicher Begeisterung das Stück. »Die Farben leuchten wie von innen heraus. Vermutlich schaffen die Goldfäden diesen Effekt. Ihr besitzt da ein wahres Kleinod.«
»Wenn ich mir vorstelle, man würde mit dieser Fertigkeit Frauengewänder schmücken …«
Aimée drehte die Stickerei um. Zu ihrer Enttäuschung war sie rückseitig mit dicker Seide abgefüttert.
»In Paris und in Florenz gibt es Versuche in dieser Stickart, soweit ich weiß, aber sie bleiben weit hinter dem Original zurück«, erklärte die Herzogin. »Denkt Ihr, dass sich in Brügge solche Arbeiten herstellen ließen?«
Aimée erfasste spontan, welche Chancen es ihr bieten würde, wenn in Brügge derlei Gewänder hergestellt werden könnten. Sie musste nur kurz nachdenken, um der Herzogin einen Vorschlag zu machen.
»Vielleicht bei den Beginen vom Weingarten. Sie sind ungewöhnlich tüchtige Frauen. Ich habe sie und ihre Fähigkeiten schätzen gelernt. Aber man müsste ihnen eine Vorlage geben.«
Aimée musste plötzlich daran denken, was sie in Brügge erwartete. Ihr Haus war seiner Schätze beraubt. Unter den Tapisserien hatte sie jedoch bemalte, gekalkte Wände entdeckt und unter den Teppichen die glatten Bohlen schöner Holzböden. Auf die reine Substanz der edlen Materialien beschränkt, harrte es seiner Herrin.
»Hört Ihr mir überhaupt zu?« Die Herzogin schüttelte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf. »Wo seid Ihr mit Euren Gedanken?«
»Verzeiht. Ich war mit meinen Gedanken kurz in Brügge, da wir vom Beginenhof sprachen.«
»Ihr sehnt Euch offensichtlich zurück nach Flandern? Das ist schade, denn ich hatte gehofft, Ihr würdet vielleicht unter den gegebenen Umständen an den Hof zurückkehren. Ich habe Euch schon in Gent geschätzt, wie Ihr wisst, Aimée. Aber ich merke, dass Ihr in Euren neuen Aufgaben Befriedigung findet. Wann wollt Ihr nach Brügge heimkehren?«
»Sobald es die Straßen zulassen. Ich hoffe, es wird bald möglich sein.«
»Dann nehmt diese Stickerei mit Euch und zeigt sie Euren Beginen. Vielleicht finden sie heraus, worin die Kunstfertigkeit dieser Londoner Arbeit besteht.« Sie schloss Aimées Hände um das Medaillon. »Eines noch, meine Liebe. Ich hatte gehofft, unter den Meisterstücken, die Ihr geliefert habt, ein gewisses Perlenhalsband zu finden, das in Gent in Euren Besitz übergegangen ist.«
Aimée versuchte bei der Wahrheit zu bleiben, ohne sich mit Einzelheiten zu belasten.
»Ich musste den Schmuck nach dem Tode meines Mannes verkaufen, um eingehende Warenlieferungen zu bezahlen. Messer Contarini hat ihn seinerzeit in Zahlung genommen. Wenn Ihr es wünscht, kann ich ihn darauf ansprechen, vielleicht ist er noch im Besitz seiner Bank. Soll ich mit ihm sprechen?«
»Mit der gebotenen Zurückhaltung, ja.« Die Herzogin wirkte eine Spur verlegen. »Mir liegt gerade an diesem Schmuckstück sehr viel. Es ist auf seine Art einmalig und birgt viele Erinnerungen für mich.«
»Ich werde ihn ansprechen und hoffe sehr, dass Ihr es bald wieder in Händen haltet«, erwiderte Aimée. Es würde ohnehin ein unangenehmes Gespräch sein, das sie mit Contarini führen musste. Sie hatte das sichere Gefühl, dass Scherereien auf sie zukamen.
Die Herzogin verabschiedete sie freundlich und mit guten Wünschen.
Das volle Ausmaß der Wahrheit, das Domenico mit sachlicher Stimme vortrug, traf sie dennoch mit unerwarteter Wucht.
Colard und sie hatten Contarini in einer gemütlich ausgestatteten Stube empfangen, die Maître Ballain ihnen dafür zur Verfügung gestellt hatte. Zwei Glutbecken verbreiteten Wärme, und auf den geschnitzten Stühlen lagen Brokatkissen.
»Verstehe ich Euch richtig? Das Haus Cornelis ist in solchem Ausmaß bei Euch verschuldet, dass der Gewinn aus dem Geschäft mit der Herzogin einzig dazu reicht, die Zinsen zu begleichen? Unsere Verbindlichkeiten bleiben in voller Höhe bestehen?«
»So ist es in der Tat.«
Benommen starrte Aimée in Contarinis ungerührtes Gesicht. »Welche Zinssätze habt Ihr meinem Mann
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