Die Stunde des Venezianers
nicht, dass sie je gemalt wurde«, stellte Aimée halb verwundert, halb fragend fest, allerdings ohne Hoffnung, dass Colard ihr etwas dazu sagen könnte. »Sie war nur eine Bürgerliche, die Tochter eines Händlers.«
»Sie war die einzige Tochter des reichsten Mannes von Brügge.« Mit einem festen Griff nahm Colard Gleitje das Bild wieder ab.
»Ein albernes Puppengesicht«, zischte Gleitje bösartig. »Sieh zu, dass du einen Narren findest, der uns den Plunder abkauft. Ich will das Ding nicht im Haus haben.«
Aimée packte der Zorn.
»Halt den Mund, wenn ich mit Colard rede. Es steht dir nicht zu, mich zu unterbrechen, und über das Bild verfügst auch nicht du. Du bist frech und anmaßend.«
Aimée war noch nie vergleichsweise aus der Haut gefahren und laut geworden. Sowohl Gleitje wie Colard sahen sie völlig verblüfft an. Gleitje erstarrte. Colard wagte kein Wort zu ihrer Verteidigung.
Die Dame mit der Lilie.
Aimée versenkte den Blick in den Augen ihrer Urgroßmutter. Sie betrachtete das mädchenhafte Antlitz. Sanft, unendlich anmutig.
Sie riss sich aus ihren Gedanken.
»Wieso hast du mir dieses Bild nie gezeigt?«, warf sie Colard heiser vor.
»Ich hatte es vergessen.«
Eine dreiste Lüge.
An der Art, wie Aimée ihn ansah, konnte Colard unschwer erkennen, dass sie ihm kein Wort glaubte. Er versuchte, ihr Misstrauen mit einer Teilwahrheit zu entkräften.
»Piet Cornelis hatte das Bild zu seinen Lebzeiten in dieser Kammer hängen. Mein Vater beließ es dort, und auch ich hatte mich an den Anblick gewöhnt. Ich habe es erst in die Truhe getan, als Ruben dich unter dieses Dach brachte.«
Gleitje löste sich aus ihrer Erstarrung.
»Du hättest es gleich auf den Kehricht schmeißen sollen«, mischte sie sich wieder ein. »Es ist kein wertvolles Heiligenbild, es ist das Bild einer dummen Gans, die geglaubt hat, dass sie etwas Besseres ist.«
»Halte dich endlich aus unseren Gesprächen heraus, Gleitje«, fauchte Aimée nur kurz. »Und beleidige meine Urgroßmutter nicht.«
»Und wenn doch? Du hast mir keine Befehle zu erteilen.«
»Träum weiter, Gleitje!«, flüsterte Aimée. Sie hatte genug von dieser Art der Auseinandersetzung. »Du wirst die Realität schon noch kennenlernen.«
Sie sah, dass Colard und Gleitje noch einen Blick wechselten, bevor Gleitje mit einer verächtlichen Bewegung der Schultern aus der Stube rauschte. Man hörte sie den Gang entlangstampfen und ungeduldig nach einer Magd rufen.
»Gleitje ist meine Frau, sie verdient deinen Respekt. Warum verärgerst du sie so?«, entrüstete sich Colard unterdessen.
»Ich verärgere deine Frau!« Aimée umklammerte das Bild. »Bist du noch bei Trost, Colard de Fine? Lass dir gesagt sein, wir haben bei weitem größere Probleme als die, uns mit den Launen deiner Frau auseinanderzusetzen. Der Handelszug aus Dijon wird nicht eintreffen. Er wurde bei Reims überfallen, die Begleitung massakriert und die Waren gestohlen.«
Colard ließ sich auf einen Stuhl sinken, streckte die Beine von sich und fixierte einen Punkt irgendwo an der Wand neben dem ungenutzten Alkoven. Seine Reaktion befremdete Aimée. Sie hatte mit Entsetzen gerechnet. Mit Fragen.
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, erkundigte sie sich erbost. »Schweigen?«
»Was erwartest du von mir, Aimée?« Colard richtete sich wieder auf und zog sein Wams gerade. »Ich habe davon abgeraten, auf solches Risiko zu setzen, auch wenn der Gewinn noch so verlockend schien. Nun habe ich recht behalten. Unser ganzes flüssiges Kapital steckte in diesem vermaledeiten Handelszug. Jetzt haben wir die Quittung für deinen Wagemut.«
Aimée betrachtete ihn genauer als sonst, während sie ihre Schlüsse zog. Dass Colard Gleitje in Schutz nahm, war noch kein Beweis für irgendeine ihrer Vermutungen. Dass Colard allerdings völlig gelassen und nur mit einem Vorwurf an sie reagierte, öffnete allen anderen Vermutungen Tür und Tor.
»Du bist nicht besonders überrascht von meiner Nachricht, Colard«, sagte sie bedächtig. »Wusstest du schon von dem Überfall? Hat dir vor mir schon jemand die Nachricht überbracht?«
Zumindest Letzteres war eigentlich nicht möglich.
»Lächerlich. Dieses ganze Handelshaus und seine Angelegenheiten wachsen dir über den Kopf, Aimée. Es ist an der Zeit, dass du das einsiehst. Hör auf, die Handelsherrin zu spielen, es bringt dich um den Verstand.«
Das war keine Antwort, dachte Aimée, noch nie hatte Colard in diesem überheblichen Ton mit ihr
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