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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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Sie lagen im großen Hauptturm und ermöglichten es ihr, aus einem der Fenster den Strom der geladenen Gäste von oben herab zu beobachten. Sie fragte sich, wer wohl aus Brügge und Gent kommen würde und wie man darauf reagieren würde, dass sie hier wieder eine Andrieu war?
    Der Zeremonienmeister, der sie unter dem Torbogen der Halle in Empfang nahm, begleitete Aimée durch den Festsaal an die Stirnseite der Tafel, an der das Herzogpaar neben dem Grafen unter den gekreuzten Standarten von Flandern und Burgund stand.
    Aimées Erscheinen erregte Aufmerksamkeit. Unter dem grünen Schleppmantel mit der gestickten Blütenborte trug sie ein cremefarbenes seidenes Faltenkleid, das, vom Kerzenlicht komplementiert, ihre Figur schmeichelhaft zur Geltung brachte. Die verschiedenen modischen Aperçus an Mantel und Kleid fanden die uneingeschränkte Bewunderung im Saal.
    Der Zeremonienmeister verkündete ihren Namen.
    »Möge es Euer Gnaden gefallen, Eure treue Dienerin Aimée von Andrieu zu empfangen«, sagte er mit lauter Stimme.
    Der Herzog ließ es sich nicht nehmen, ihr die Reverenz zu erweisen. Er küsste sie mit erkennbarem Vergnügen auf die Stirn und auf beide Wangen, ehe er auch seinem Schwiegervater die Gelegenheit gab, sie zu begrüßen.
    Noch während Aimée Fragen beantwortete, Höflichkeiten entgegennahm und sich bedankte, erklangen Trompetenstöße, die zum Festmahl riefen. Alles drängte zur Tafel. Plötzlich stand Contarini neben ihr.
    »Messer Contarini, welche Freude …«
    Sie brach ab, als er sich ihr zuwandte. Fremde Augen sahen sie an. Er war es nicht. Erst aus der Nähe erkannte sie ihren Irrtum. Sie musste sich eingestehen, dass sie enttäuscht war.
    »Verzeiht die Verwechslung, Seigneur«, entschuldigte sie sich.
    »Verzeihen? Ich danke dem Himmel. Er gestattet mir die Bekanntschaft der schönsten Frau des Hofes. Ich bin Alain von Auxois, Hauptmann des Herzogs von Burgund. Ich konnte meinen Blick nicht von Euch wenden, seit Ihr den Saal betreten habt.«
    Aimée zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. »Ihr tut mir zu viel der Ehre, Herr von Auxois. Eure Ähnlichkeit mit einem … Freund ist einfach unglaublich. Und dazu noch tragt Ihr ebenso Schwarz wie er.«
    »Er scheint nicht hier zu sein, so wage ich die Bitte, Euch an seiner Stelle meinen Arm zu reichen.«
    Hinter ihnen drängelten die Gäste. Sie ließ es willenlos geschehen. Sie war noch ganz benommen von ihrer Enttäuschung und der Verwunderung darüber, dass sie sie empfand.
    Alain von Auxois nutzte seine Chance höchst geschickt. Ehe Aimée protestieren konnte, nahm er neben ihr an der Tafel Platz. Sie fühlte sich an Gent erinnert. Damals hatte Ruben so dreist ihre Gesellschaft gesucht.
    Sie überhörte die überschwänglichen Komplimente, mit denen er sie überschüttete. Sie war in Gedanken bei Domenico Contarini. Der Wunsch, den Venezianer wiederzusehen, schlummerte wohl in der Tiefe ihrer Seele, wie sie zu ihrer Verwirrung feststellte.
    »Ich habe vorhin natürlich Euren Namen bei der Vorstellung vernommen. Mit einem Philippe von Andrieu habe ich gegen die Engländer gekämpft«, plauderte Alain von Auxois soeben, während er ihr die besten Stücke des Bratens kleinschnitt und anbot. Er war sichtlich bemüht, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Ein Teufelskerl und ein geschickter Taktiker dazu. Ihr seid sicher mit ihm verwandt? Seine Familie lebt in der Comté, soviel ich weiß.«
    »Philippe ist der älteste meiner Vettern. Ich bin mit ihm und seinen Geschwistern in der Burg von Andrieu aufgewachsen. Hat er den Krieg lebend und gesund überstanden? Ich erhalte zwar regelmäßig Nachricht aus Andrieu, aber es ist viel zu weit von Brügge entfernt, um alles genau und schnell zu erfahren.«
    Endlich war es ihm gelungen, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er lächelte ihr charmant zu, zeigte ein makelloses Gebiss und verstärkte damit ahnungslos Aimées Verwirrung.
    »Soweit ich weiß, ist Philippe bei bester Gesundheit und auf dem Weg nach Hause. Im Moment schweigen die Waffen. Was hat Euch nach Brügge verschlagen?«
    »Das Familienerbe«, entgegnete sie knapp. Sie hatte keine Lust, zu viel von sich preiszugeben. »Die mütterliche Verwandtschaft meiner Großmutter. Wo habt Ihr gegen die Engländer gekämpft? In der Bretagne?«
    Es fiel ihr im Verlauf des Abends immer leichter, das Gespräch mit Alain von Auxois in gefällige Bahnen zu lenken.
    Sie verbrachte die Stunden an seiner Seite unerwartet heiter und sorglos, und als sie am

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