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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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sogar unter einer Decke steckte. Er würde ihr darüber hinaus noch unterstellen, sie sei eifersüchtig auf Gleitje.
    Sie kämpfte um Fassung.
    Spekulationen und Vermutungen halfen ihr nicht weiter. Sie musste ebenso bedacht wie gewitzt agieren. Sie musste sofort anfangen nachzudenken und Erkundungen einholen.
    Wo und wie sollte sie ihre Nachforschungen beginnen? Sie brauchte Hilfe. Einen Menschen, dem sie vertrauen konnte und der Interesse, möglichst auch ein eigenes, an ihrem Erfolg hatte, der Brügge und die Brügger kannte.
    Abraham ben Salomon. Natürlich.
    Er hatte sich als angenehm erwiesen, war ein ehrlicher Sachwalter Contarinis. Dass er Jude war, spielte für sie keine Rolle. Sie war zu Toleranz erzogen und teilte nicht die Vorurteile, die viele Brügger Kaufleute gegen die Juden hatten. Sie unterhielt regelmäßig Kontakt zu ihm, zumal er auch immer wieder aus Venedig zu berichten hatte und sie dadurch etwas über Domenico Contarini erfuhr. Jedes ihrer Gespräche führte früher oder später zu der Frage: »Was hört Ihr aus Venedig, Herr Salomon?«
    Oft kreisten ihre Gedanken um ihn, den sie für sich nur den Venezianer nannte. Er hatte ihr in der Stunde ihres letzten Gespräches eine Chance gegeben – und war für immer entschwunden. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, ihre weibliche Macht über ihn überbewertet. Zunehmend wurde ihr bewusst, dass sie ihn vermisste, vor allem, wenn Salomon ihr seine immer herzlichen Grüße ausrichtete.
    Nein – sie durfte nicht scheitern.
    Die Berichte Salomons füllten ihre Phantasie mit Bildern. Sie wusste von Domenicos Heirat, vom märchenhaften Reichtum seiner Braut, von dem Kind, das sie mittlerweile erwartete. Sein Onkel, der Doge Andrea Contarini, bedrängte ihn, sich um einen Sitz im Großen Rat zu bewerben, was nach Salomon die Voraussetzung war für ein politisches Amt in Venedig. »Es ist wichtig, weil er damit Macht und Einfluss gewinnt«, sagte Salomon.
    Wenn sie ihn um Hilfe bat, war es eine Frage des Anstands, auch Contarini zu unterrichten. Er verlor Geld, wenn sie scheiterte. Der Kurierdienst seines Bankhauses würde ihren Brief auf schnellstem Wege zu ihm bringen.
    Was sollte sie ihm schreiben?
    Sie würde ihre Erfolglosigkeit eingestehen müssen; zugeben, dass ihre hochfliegenden Pläne geplatzt waren. Dabei hatte sie es sich in den leuchtendsten Farben ausgemalt, wie sie ihm ihre Tüchtigkeit und ihren Kaufmannsgeist beweisen wollte. Sie hatte sich an der Vorstellung berauscht, dass er sie bewundern würde wie er keine andere Frau je bewundert hatte. Sie würde von diesem Traum Abschied nehmen müssen.
    Welche Möglichkeit blieb ihr sonst?
    Aimée berührte den Ring an der Hand.
    Andrieu – Onkel Jean-Paul.
    Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, sie solle sich sofort an ihn wenden, wenn ihr die Probleme über den Kopf wuchsen. Ihm musste sie weder Klugheit noch Tüchtigkeit beweisen. Doch er würde sie vielleicht wieder nach Andrieu zurückholen wollen.
    Wohin, an wen nur, sollte sie ihren Hilferuf senden?

31. Kapitel
    B RÜGGE , 13. J UNI 1372
    »Colard, ich muss dich leider stören.« Aimée hatte die Tür zu Colards privatem Refugium hinter dem Kontor geöffnet, obwohl sie keine Antwort auf ihr Klopfen erhalten hatte. Sie wusste, dass er dort war, und sie wollte unter vier Augen mit ihm sprechen. Dies gebot ihr der Anstand. Sie wollte ihn nicht verurteilen, ohne ihm zuvor Gelegenheit zu geben, ihren Verdacht zu zerstreuen.
    »Was willst du hier?«
    Gleitje!
    Aimée hätte am liebsten in der Tür kehrtgemacht, wenn die dumme Person es nicht als Zeichen von Schwäche ausgelegt hätte.
    »Nichts von Bedeutung für dich, Gleitje«, sagte sie kühl und heftete die Augen auf Colard, der mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster stand und ein Holztafelbild ans Licht hielt.
    »Colard«, wiederholte Aimée drängender. »Würdest du mir bitte in mein Kontor folgen?«
    Er hatte sich umgewandt, und Aimée konnte das Bild sehen. Es zeigte eindeutig ihre Großmutter. Magisch angezogen, kam sie näher und streckte die Hände danach aus.
    Gleitje riss es Colard aus den Händen, noch ehe Aimée danach greifen konnte. »Plunder«, quakte sie.
    Aimée hörte nicht auf sie.
    »Weißt du, wen das Bild darstellt?«, wandte sie sich an Colard.
    »Ich nehme an, es handelt sich um die Mutter deiner Großmutter, um Margarete Cornelis – genauer gesagt, um die Tochter von Piet Cornelis, die nach Andrieu geheiratet hat. Es ist deine Urgroßmutter.«
    »Ich wusste

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