Die Stunde des Venezianers
nächsten Morgen zur Jagd aufbrachen, lenkte er wie selbstverständlich seinen Hengst an die Seite ihrer Stute. Auch an diesem Morgen war er in Schwarz gekleidet.
»Ihr kommt aus dem Süden?«, fragte sie beiläufig, um die endlose Fortsetzung seiner Bewunderungsbekundungen zu unterbrechen. Sie wusste selbst, dass sie in dem neuen Reitkleid eine gute Figur machte.
»Ja, ich bin in der Nähe von Toulouse zu Hause. Ich habe als Page dem Herzog von Burgund gedient. Meine Mutter ist weitläufig mit dem französischen Königshaus verwandt.«
»Ihr habt gegen die Engländer gekämpft, habe ich von gestern in Erinnerung, ich würde gerne etwas mehr über diesen Krieg wissen.«
»Es gibt davon wenig zu berichten, was ein Frauenherz höher schlagen ließe«, zögerte Alain. »Guesclin, der Connétable von Frankreich, verwickelt auf Anweisung des Königs die Engländer in einen zermürbenden Kleinkrieg.«
»Und das bedeutet?«
»Ihr wollt es wirklich wissen?«
»Sonst würde ich nicht fragen.«
»Vielleicht seid Ihr ja der Meinung Eures Vetters«, lächelte Alain. »Die Strategie des Königs kritisiert er heftig. Er findet, dass die Soldtruppen, die riesige Summen verschlingen, nicht in zahllosen Scharmützeln geschwächt werden sollten, sondern zu einer großen Streitmacht vereint werden müssten.«
»Ich habe Euch so verstanden, dass im Augenblick Ruhe herrscht.«
»Der momentane Waffenstillstand ist nur darauf zurückzuführen, dass kastilische Galeeren im Hafen von La Rochelle die englische Nachschubflotte versenkt haben. Alle sind der Kämpfe müde. Hoffentlich gelingen uns die Rückeroberung der Bretagne und der endgültige Sieg über die Engländer in Bälde. Aber wir sollten über Erfreulicheres reden, zum Beispiel über Eure Reitkunst.«
Aimée fand das Thema zwar nicht besonders ergiebig, doch sie ging darauf ein, wollte ihm nicht widersprechen. Sie tauschten sich über die Unterschiedlichkeit im Wesen der Pferde aus, verfolgten gemeinsam das Jagdgeschehen. Sie hatten ein langes Gespräch über die Greuel des Krieges, von denen er auf ihr drängendes Fragen eindringlich zu berichten wusste. Dann wieder spotteten sie über dies und das, und es gelang Alain von Auxois, Aimées Ängste, die der Krieg in ihr weckte, wieder zu zerstreuen. Für viele Stunden hatte sie auch die plagenden Sorgen um das Haus Cornelis verbannt.
Bei allem Charme, den Alain mit Ruben teilte, hatte seine Willenskraft etwas Anziehendes, das sie wiederum an Contarini, den Venezianer, erinnerte.
Das meist scherzende Paar zog viele neugierige Blicke auf sich. Die des Herzogs waren etwas neiderfüllt, die der Herzogin zufrieden.
33. Kapitel
B URG VON M ALE , 24. J UNI 1372
Die Herzogin bedachte Aimée mit einem dünnen Lächeln.
»Flandern gehört zu Frankreich.«
Aimée folgte ihren Blicken. Sie bewohnte die Prachtgemächer der Burg im Hauptturm. Von ihrem Fenster aus konnte man weit über das flache Land sehen. Von hier war Brügge ein Spitzensaum aus Türmen und Dächern am Rand eines seidenblauen Himmels. Das Panorama nahm für einen Augenblick beide Frauen gefangen.
Es sei an der Zeit, den Krieg zu beenden – die Entscheidung darüber falle nicht in Flandern, sondern in Frankreich, hatte Aimée geäußert und eine deutliche Antwort bekommen.
Sie hatte um dieses Gespräch gebeten, um über die Turbulenzen bei ihr in Brügge zu sprechen und über ihre Pläne, wozu es beim letzten Mal nicht gekommen war. Noch unter dem Eindruck des Tages mit Alain von Auxois stehend, hatte sie dann aber erst ihrem Herzen Luft machen müssen.
»Flandern ist gottlob, dank Eures Vaters, bisher nicht zum Kriegsschauplatz geworden. Dafür bin ich dankbar und bitte den Himmel, dass es so bleibt.«
»Ich verstehe Eure Sehnsucht nach Frieden, Aimée, aber glaubt mir, Frankreich braucht den Sieg über die Engländer dringend, um endlich wieder Herr im eigenen Land zu sein.«
»Ich habe Angst davor, dass der Krieg auch zu uns kommt. Wir haben so vieles überstanden, die Pest, die Unruhen, die Handelsblockaden, aber die Schrecken des Krieges würden Brügge vernichten.«
»Was wisst Ihr von den Gräueln des Krieges?«
»Zu viel. Es ist ein Gemetzel, das keine Unterschiede zwischen Freund und Feind kennt. Jeder massakriert jeden. Es ist das Brot der Söldner, zu töten, und häufig verwechseln sie Freund und Feind dabei. Im Rausch großer Schlachten werden ebenso viele eigene Soldaten wie Feinde von ihnen getötet.«
»Wer sagt das?«
»Alain von
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