Die Stunde des Wolfs
der Südküste Schwedens sein, eine geschäftige Zeit für alle zweifellos, und so hatte er sich vielleicht diesen Abend frei genommen, um sich auszuruhen, und den Messejungen in die Kombüse geschickt, um Zwiebel-Margarine-Stullen zu bringen, und seinen persönlichen Vorrat im Kartenraum um zwei Flaschen Lambic-Bier erleichtert. Starkes Gebräu, dickflüssig und schwer, wohl in den Kellergewölben der Abtei Saint Gerlac in Belgien von lustigen Mönchen gebraut, mit dem Emblem des Heiligen – ein Eremit auf einem Baum – auf dem hübschen Etikett. Saint Gerlac wurde in sehr großen Flaschen abgefüllt, mit Keramikstopfen, damit man sie nötigenfalls wieder verschließen konnte, falls man beim Trinken – durch einen Goldtalerregen oder eine unerwartete Geburt – unterbrochen wurde und es später zu Ende trinken musste.
Um halb acht waren sie in den Öresund, den Wasserweg in die Ostsee und den engsten Teil des dänischen Nadelöhrs, eingelaufen, mit einem verdunkelten Hafen von Helsingør auf der dänischen Seite und hübschen Lichtern im schwedischen Helsingborg, drei Meilen hinter dem Sund. Die Noordendam blieb deutlich auf der neutralen Seite des Gewässers und kam daher nahe an Helsingborg vorbei.
Nur langsam zog um diese Tageszeit die Dämmerung herauf. De Haans Kajüte war dunkel, Bierflaschen und Brotteller lagen auf dem Boden, die Kleider ordentlich gefaltet auf einem Stuhl. »Können wir rüber und es uns ansehen?«, fragte sie und stieg aus dem Bett. De Haan entriegelte die Messingvorrichtung am Bullauge und öffnete das Fenster weit – ein milder Abend, die Luft fühlte sich gut an auf der Haut. Sie waren nahe an Helsingborg herangekommen, nahe genug, um die Holzbauten im Hafen zu sehen, alle im selben Rot gestrichen, auch nahe genug, um eine lange Reihe Segelboote zu beobachten und einen Mann, der mit seinem Hund bis ans Ende des Docks gegangen war und dem Frachter im Vorbeifahren winkte.
»Wär schön«, sagte sie. Hier zusammen zu sein.
»Ja, später einmal.«
»Später einmal.« Das es vermutlich nie geben wird, meinte sie. »Wird heute Abend etwas passieren?«
»Wir kommen um etwa zwei Uhr morgens am Ziel an, wir löschen die Fracht, und mit ein bisschen Glück geht's dann, na ja, nicht nach Hause weiter, aber so etwas Ähnliches zumindest.«
»Ah«, sage sie. »Hatte ich mir schon gedacht.«
»Du hast es gewusst?«
»Es liegt in der Luft, wie die Ruhe vor dem Sturm.«
Am städtischen Pier standen zwei Jungen bis zur Taille im öligen Wasser und spritzten einander voll.
»Kannst du schwimmen?«, fragte er, nur halb im Spaß.
»Würdest du mich denn lassen?«
Er brauchte eine Weile, bis er verstand, dass sie als Frau fragte, nicht als Flüchtling, und er legte die Arme um sie und zog sie wieder an sich. Es fühlte sich so gut an, dass er eine Zeit lang schwieg, bevor er schließlich sagte: »Auf keinen Fall«, und dann hinzufügte: »Außerdem ist das Wasser zu kalt.«
»Dieses Land ist zu kalt.« Das städtische Dock fiel zurück und machte einer Ansammlung winziger Häuser Platz, wo die Stadt sich in ein altes Dorf zurückverwandelte. »Aber was wäre, wenn wir doch irgendwohin gehen könnten?«
»Dann würden wir gehen.«
»Wohin?«
»Irgendwo aufs Land.«
»Und wo?«
»Frankreich vielleicht. Am Ende einer kleinen Straße.«
»Tatsächlich? Nicht am Meer?«
Er lächelte. »Mit Blick aufs Meer.«
»Wie in einem Bilderbuch«, sagte sie. »Du wärst auf einer Terrasse, mit einem Fernglas in der Hand.« Mit gekrümmten Daumen und Zeigefingern bildete sie ein Fernglas, richtete es auf das Bullauge und kniff ein Auge zu. »›Ach, wie ich das Meer vermisse.‹ Und ob du das würdest, mein lieber Freund.«
Jetzt waren die letzten Ausläufer von Helsingborg verschwunden, und sie dampften im grauen Licht an der flachen, felsigen Küste vorbei. »So bleibt es, bis wir in Kopenhagen sind«, sagte er.
»Ich war da, ich mag diese Leute, die Dänen, und sie haben gutes Essen, sehr gutes Essen. Jedenfalls damals.«
»Sie haben es nicht gar so schwer, nicht wie in anderen Ländern.«
»Das kommt noch. Du wirst sehen.«
Sie schwiegen eine Weile, nicht eben glücklich darüber, dass sie sich ins wirkliche Leben zurückverirrt hatten. »Du fühlst dich gut an da hinten«, sagte sie. »So interessiert.«
»Ja?«
»Ja.« Sanft entwand sie sich seinen Armen und ging zu dem Bücherregal hinüber, wo er das Victrola-Grammophon aufbewahrte. Sie nahm das Album mit den Schallplatten und
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