Die Stunde des Wolfs
Alltagsmist, dachte er, wie eine handgreifliche Gefahr.
Er nahm sich Amado beiseite und erklärte ihm, er müsse in den kommenden Tagen vielleicht noch einmal seine Rolle spielen. Er fragte Van Dyck, ob er von der Brücke zum Funkraum eine Verbindung herstellen könne, und Van Dyck sagte Ja, mit Ersatzteilen, die er für das Brücke-Maschinenraum-System zurückgelegt hatte. »Wird idiotisch aussehen«, sagte der Bootsmann. »Rohrleitung vom Ruder runter und quer übers Deck.«
»Tun Sie's trotzdem«, trug De Haan ihm auf.
In einem ehemaligen Vorratsraum, den sie strahlend weiß getüncht und, mit einem roten Kreuz am Schott, in eine Krankenstation verwandelt hatten, sprach er kurz mit Shtern und schließlich mit S. Kolb, den er bei einer Lektüre in der Messe fand.
»Guter Lesestoff, Herr Kolb?«
Kolb hielt ihm den Buchrücken hoch. H. Kretschmayr , Geschichte von Venedig. »Hab ich in meinem Hotelzimmer in Lissabon gefunden«, sagte er.
»Kriege und Handelsflotten?«
»Dogen.«
Mit diesen Hüten.
»Geht nur bis 1895«, sagte Kolb. »Ist vielleicht gar nicht so schlecht.«
»Wir laufen heute Abend«, sagte De Haan, »in deutsche Gewässer ein. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«
»Bekomme ich – eine Gefechtsstellung zugewiesen?«
De Haan war diplomatisch. »Wir gehen nicht davon aus, dass es nennenswerte Kampfhandlungen gibt, Herr Kolb, aber falls etwas passiert, wissen wir, wo wir Sie finden.«
»Ich kann mit einem Funkgerät umgehen, Herr Kapitän.«
Das wundert mich nicht. »Tatsächlich? Nun ja, vielleicht kommen wir darauf zurück.«
Um 21.00 Uhr schoss Ratter Sterne und berechnete, dass sie nicht lange nach Mitternacht eine Linie, die südlich von Stavanger, Norwegen – 6° östlicher Länge –, kreuzen würden. »Ihre Haustür«, sagte er.
»Ja, falls wir angehalten werden, dann dort.«
»Schiff abdunkeln? Auf offener See?«
»Nein, volle Beleuchtung, und sechs vor der norwegischen Küste.«
Am 20. Juni lief die Noordendam um 00.18 Uhr in das von Deutschland besetzte Europa ein, indem sie um ein Minenfeld herumkurvte, das an dieser Seegrenze gleichsam als Stacheldraht zur Begrüßung auf sie wartete. De Haan notierte diesen Zeitpunkt besonders sorgfältig im Logbuch, weil er das Gefühl hatte, dass sie nicht wieder herauskommen würden. Im Norden eine dunkle Küste. Völlig abgedunkelt. Keine Leuchttürme, keine Feuerschiffe, keine Klingeln oder Hörner oder Leuchttonnen – keine der Navigationsapparaturen, die seit Jahrhunderten Seeleuten halfen, den Weg zu finden. Dennoch wäre es selbst bei dem spärlichen Licht der Mondsichel wie jede andere nächtliche Seereise gewesen – Schiffsklingeln zur halben Stunde, Maschinen mit Volldampf voraus, das schäumende Kielwasser hinter ihnen. Doch das war es nicht, denn man konnte fast mit Händen greifen, dass da draußen irgendetwas auf der Lauer lag. Beruhige dich, mahnte sich De Haan, aber es half nichts, und Ruysdaal, der neben ihm am Ruder stand, ging es nicht viel besser. »Peilung null neun fünf, Herr Kaptän«, sagte er ohne jeden Grund.
»Recht so«, antwortete De Haan. Wie Hunde, dachte er, die die Nacht anbellen.
Dann brach die Hölle los.
Von der Küste aus stachen gewaltige Suchscheinwerfer in den Himmel, und De Haan packte sein Fernglas, folgte den Lichtkegeln und sah rein gar nichts. Doch ein fernes Summen im Westen schwoll, während er suchte, zu einem tiefen Brummen an und dann zum vollen Dröhnen eines Bomberverbands. Zur Antwort Flugzeugabwehrgeschütze: Dutzende trommelten gleichzeitig los, mit stechenden Blitzen von der Küste und Flak-Rauchwolken in der Höhe – langsame, stille Wölkchen, die sich im Licht der Scheinwerfer aschgrau verfärbten. Die ersten Bomben klangen wie heftiger Donner; einzelne Explosionen, die den Rhythmus der Geschütze unterbrachen und über das Wasser heranrollten, dann mehr davon und lauter, als der Hauptteil des Verbands auf Zielhöhe war. Mit offensichtlich zumindest ein paar Brandbomben an Bord, die überall dort, wo sie hintrafen, gewaltige orangefarbene Feuersäulen produzierten, aus denen der Rauch in den Himmel quoll.
Ein Schatten schnitt durch den unteren Rand des Scheinwerferstrahls, und Ruysdaal sagte: »Sturzbomber«. Sein Motor kreischte auf der Flucht, und die Lichter verfolgten ihn, bis er scharf in die Kurve ging und heulend übers Meer hinausgeflogen kam, auf die Noordendam zu, wo eine Menge Matrosen an Deck ihm wild zujohlte und winkte, als könnte der Pilot
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