Die Stunde des Wolfs
kann, welches U-Boot wo ist. Der NID hat nichts Geringeres vor, als eine Art Biografie für jedes U-Boot zu schreiben, seine Nummer rauszufinden, vielleicht sogar den Namen des Kommandanten. Sie wollen es von seiner Geburt in den Ostseewerften bis zu seinem Tod verfolgen. Denn solange U-123 im indischen Ozean ist, kann es nicht auf den atlantischen Konvoirouten sein.«
Ratter zündete sich eine Zigarette an und schüttelte das Streichholz aus. »Stas, woher weißt du das alles?«
»Als ich in Polen bei der Marine war, hatten wir Leute, die an solchen Dingen arbeiteten. Die Erde besteht zu vier Fünfteln aus Wasser, das ist eine Menge Platz zum Verstecken, also ist es bei Seekriegen schon immer darum gegangen, den Feind zu finden, bevor er dich findet. Falls es dir nicht gelingt, bist du erledigt, und von all der heroischen Opferbereitschaft bleibt unterm Strich nur ein verlorener Krieg.«
Nach Norden, immer weiter nach Norden. Am Abend des Sechzehnten ins Zentrum des Gewitters, wo der Wind kreischte und neun Meter hohe Wellen über das Deck krachten und windgepeitschte Regenmassen die Fenster des Brückenhauses herunterströmten. De Haan selbst übernahm die Sturmwache, doch auch Ratter und Kees waren, inzwischen alle in Ölzeug, die ganze Nacht hindurch immer wieder auf der Brücke. So auch der Steuermann, der, die weiß gefrorenen Hände am Ruder, eine Zwei-Stunden-Schicht absolvierte, bevor De Haan ihn nach unten schickte und einen frischen Mann übernehmen ließ. Der Sturm toste aus West, und De Haan gab widerwillig immer nur einen Strich auf einmal nach, um so gut wie möglich Kurs zu halten, doch die volle Wucht auf den Decksbalken hätte die Noordendam nicht überstanden. »Schwenken Sie um Gottes willen in den verdammten Mist ab«, sagte Kees am Ende, und De Haan gab den Befehl und hielt genau auf West, direkt in den Wind. Mr. Ali kam ab und zu herauf und blinzelte, während er sich die Brille mit einem Taschentuch trocken rieb, und meldete Notrufe, die über Funk eingingen, nachdem in dieser Nacht der Nordatlantik den Krieg übernahm und versuchte, ihn in zwei Hälften zu spalten. Dann knickte eine Orkanböe die Antenne, und Ali erschien nicht wieder.
Am Morgen des Siebzehnten ließ der Sturm mit einem dramatisch glühenden Morgenrot nach, und De Haan wankte hinunter in seine Kajüte, schälte sich aus den Kleidern und kroch ins Bett. Als er ein wenig später erwachte, fand er etwas Weiches, Warmes neben sich und war ein paar Sekunden lang außer sich vor Glück, bevor er wieder einschlief und erneut aufwachte, diesmal allein, wie er dachte, bis er unter der Decke hervorkroch und sah, dass sie am Bullauge stand und nach draußen blickte. Er betrachtete sie, bis sie es spürte und, während sie sich die Augen wischte, zu ihm umdrehte. »Du siehst mich an«, sagte sie.
»Ja.«
»Na dann«, sagte sie. Und legte sich wieder zu ihm ins Bett.
Sie hatten anderthalb Tage Verspätung, als sie an den Hebriden vorbei und um die Orkney-Inseln herum in die Nordsee dampften, doch sie konnten immer noch Smygehuk bis zum Einundzwanzigsten erreichen, so lange das Wetter mitspielte, was es, von einigen Reihenböen im Gefolge des Sturms, die weder De Haan noch die Noordendam ernst nahmen, auch tat. Vor dem Krieg waren das hier viel befahrene Seewege gewesen, doch das war lange her – nur ein paar Fischerboote, ein britischer Zerstörer in der Ferne, eine Korvette, die querab an Steuerbord herankam und zwanzig Minuten lang bei ihnen blieb, dann aber etwas Besseres zu tun fand. Danach waren sie in unruhigen, grauen Gewässern, den kalten, grimmigen Südsüdwest-Strömungen zwischen Großbritannien und Norwegen allein, und das Skagerrak, die Pforte zum Deutschen Reich, wartete zwölf Stunden östlich auf sie.
Als der Abend dämmerte, unternahm De Haan eine Kommandantenrunde um das Schiff – gleichsam ein Gang von Lagerfeuer zu Lagerfeuer am Vorabend der Schlacht. Er ließ sich Zeit und ging langsam und gemächlich, blieb stehen, um mit ein paar Matrosen, die gerade keinen Wachdienst hatten, eine North State zu rauchen, aß in der Mannschaftsmesse eine Pökelfleischstulle, trank kalten Tee dazu, setzte sich in der Werkstatt neben dem Maschinenraum auf eine Bank und plauderte mit den Schmierern und Heizern. Im Lauf des Abends wuchs sein Stolz auf seine Crew – nichts von dem üblichen Nörgeln und Meckern, keine Geschichten von Diebstahl oder Schlägereien. Nichts hat eine so heilsame Wirkung auf den ganzen
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