Die Stunde des Wolfs
wusste er. Invasion? Politischer Aufruhr? Der Krieg ist vorbei. »Haben Sie BBC gehört?«, fragte er.
»Um Mitternacht. Aber nichts Neues – Gefechte im Libanon, Mr. Roosevelt spricht. Dann Tanzmusik.«
De Haan dankte ihm und hängte das Rohr wieder an den Haken. Im schwachen Licht der Kompasshauslampe, 02.58 Uhr.
»Irgendeine Ahnung, wieso?«, fragte Ratter.
»Nein.«
02.59. 03.00. »Wie spät ist es, Johannes?«
»Null dreihundert.«
»Scheldt?«
»Herr Kaptän?«
»Geben Sie zwei dreisekündige Signale.«
»Jawoll, Herr Kaptän.«
Sie hatten erst bis zehn gezählt, als bereits die Antwort kam. De Haan schob den Maschinentelegrafen auf Stopp und wies Ratter an, den Anker auszuwerfen. Dann, noch während sich die Kette abzuwickeln begann, ein vertrautes Geräusch, das von Osten her übers Wasser hallte. Tonk. Tonk. Tonk. Ein Geräusch, das er schon sein Leben lang kannte – ein Fischerboot mit einem Einzylindermotor, dessen Ein-Kolben-Takt von einem langen Auspuffrohr durch das Dach des Ruderhauses verstärkt wurde – sehr laut und durchdringend, wie in einem Zeichentrickfilm von Disney. »Da kommt sie, Herr Kaptän«, rief Scheldt auf der Nock.
»Herr Kees soll eine Leine rüberwerfen und die Gangway runterlassen.«
Ulla hieß das Boot, vielleicht nach der Frau oder Tochter des Kapitäns, und als De Haan auf ihr Deck hinunterstieg, sah er, dass sie ein Klassiker ihrer Gattung war – mit dem üblichen Fischgestank, alles mit Netzen zugehängt, die Speigatts, die Auslassröhren, durch die Wasser ablaufen konnte, dick mit einer ganzen Generation von getrockneten Schuppen verkrustet. Er zählte acht Besatzungsmitglieder, Fischer dem Aussehen nach, in Overalls und Stiefeln und mit wallenden Bärten. Der Kapitän, ein stämmiger Wikinger in eng anliegender, handgestrickter, blaugelber Mütze, stand am Schott des Ruderhauses ein wenig abseits von den seltsamen Vorgängen an Bord seines Boots.
Zwei von den anderen Fischern waren bewaffnet – einer mit einer Sten, die er an einem Lederriemen trug, der andere mit einer großen Pistole in einem Schulterhalfter. Das war der Anführer, ein junger britischer Marineoffizier, dem Akzent nach Schotte, der sich als Archer vom NID vorstellte, sich aber keineswegs vordrängte, als De Haan anbot, die Fracht durch die Besatzung der Noordendam löschen zu lassen. De Haan verlor keine Zeit – Van Dyck und ein paar Matrosen kamen an Bord der Ulla, und schon bald hatten sie unter Kees' Kommando auf dem Schiff den ersten Laster heruntergehievt.
De Haan und seine Crew fuhren die eine Meile an Land auf dem Fischerboot mit. Nach dem Vertäuen des Boots an einem Pfahl und nach viel Gebrüll und ein paar zerquetschten Fingern wurde der Schlepper auf eine Rampe geschoben und von da aus ins Wasser gerollt, so dass er über die Gezeitenmarke platschte, bis der Motor gestartet und der Laster ein paar Meter auf den Sand hinaufgefahren wurde. »Hol mich doch der Teufel«, sagte einer der Fischer zu De Haan. »Das sieht allmählich danach aus, als könnte es tatsächlich klappen.« Ein ziemlich oberlehrerhafter Fischer, dieser hier, schon der Ton, in dem er sprach, verschmitzt und leicht amüsiert. Er war groß und spindeldürr, mit dünnem rotem Haar und Bart und Schildpattbrille.
De Haan sah in den nächtlichen Himmel. »Es wird eine Weile dauern«, sagte er. »Wir werden es nicht bis zum Morgengrauen schaffen.«
»Unsere Patrouille kommt kurz nach acht«, sagte der Mann, der De Haans Blick gefolgt war. »Der Kerl ist sehr pünktlich – um acht und um halb elf und dann halb fünf Uhr nachmittags. Ein Blohm-und-Voss-Aufklärer, ein Flugboot, genauer gesagt.«
»Kommt er je, ehm, zu früh?«
»Nie. Inbegriff deutscher Pünktlichkeit, der Mann.«
»Das ist hilfreich.«
»Nicht wahr? Wir können also die Nacht durcharbeiten.«
»Und was machen Sie?«
»Ich? Ich bin der hiesige boffin .«
» Boffin ?«
»Sie wissen schon, der Wissenschaftler, der für die Regierung an einem Geheimprojekt arbeitet.«
»Ach so, Sie sind Professor.«
»War ich mal, aber jetzt bin ich bei der Navy. Ursprünglich hat die Royal Air Force bei mir angeklopft, aber die wussten nicht so recht, was sie mit mir anfangen sollten, also haben sie mich zur Navy weitergeschickt, wo sie mir einen ganz netten Rang gaben und dann sagten, ›Und jetzt ab nach Schweden mit dir.‹«
Der Kapitän ging in den Rückwärtsgang, drehte bei, und die Ulla schepperte wieder zum Frachtschiff hinaus.
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