Die Stunde des Wolfs
nehmen; er ging allein zum Bahnhof, an einem Markt, einer Kirche, Straßenkehrern mit einem Sprühwagen vorbei. Sehr weich, das Licht in Paris um diese Tageszeit.
Als De Haan zu seiner Acht-bis-zwölf-Wache auf die Brücke hochging, war der Anstrich schon voll im Gange, hingen Gerüste aus Stricken an der Seite, während Vollmatrosen die Winde bedienten, mit der die Bootsmannstühle reguliert wurden. Hinten am Heck ein lautes Klatschen, dann sarkastisches Gejohle, »Mann über Bord!«, gefolgt von ein paar deftigen Flüchen seitens Ratter und der Anweisung, »Hievt den verdammten Mistkerl wieder an Bord, Himmel, Arsch und Zwirn!« Unter einem strahlenden Himmel trug sein Schornstein inzwischen einen halben Streifen spanisches Grün – so nannte er die Farbe –, und er konnte den Bootsmann dort oben baumeln sehen, der kurzsichtig auf das von Blasen überzogene Eisen starrte und jeden Pinselstrich mit konzentrierter Kunstfertigkeit führte.
»Scheiß Rembrandt höchstpersönlich«, sagte Ratter, als De Haan sich zu ihm gesellte.
»Ist doch nicht schlecht.« Es war eine Sache, das Täuschungsmanöver auszuhecken, eine andere, es in die Tat umzusetzen. Ratter empfand das, wie er vermutete, genauso, doch keiner von ihnen würde es offen sagen. Vorerst jedenfalls. »Sieht ganz so aus, als liefe alles nach Plan«, fügte De Haan betont zuversichtlich hinzu.
Er machte eine Runde über das Schiff, ging dann zum Unterdeck, wo Sims die Waffenpflege seiner Männer überwachte – das Zerlegen und Ölen der Sten-Gewehre sowie zwei bedrohlich aussehender Brens, Maschinengewehren mit kleinen Zweifüßen am Lauf; das Wetzen von Messern mit Gummigriff, das Bestücken von Patronengürteln. Die meisten der Männer hatten das Hemd ausgezogen und schwatzten freundlich bei der Arbeit. Vermutlich wären sie lieber am Oberdeck in der Sonne gewesen, doch es war jederzeit mit einem deutschen Aufklärungsflieger zu rechnen, und Sims wusste das ganz genau. De Haan wünschte ihnen allen einen guten Morgen und kehrte zur Brücke zurück, wo Cornelius bereits mit seinem Frühstück wartete. Dicke Streifen Speck, fast noch warm, zwischen zwei Scheiben Brot und dazu starker Kaffee. Auf allen Handelsschiffen gab es täglich frisches Brot, und es hieß allgemein, dass man entweder einen guten Koch oder einen guten Bäcker bekam, doch auf den Küchenchef der Noordendam passte diese Gleichung nicht. De Haan kaute auf seinem festen, gummiartigen Sandwich herum und starrte auf die leere See.
Als er fertig war, schlenderte er, den Kaffee in einer Hand, zur Nock und suchte mit dem Fernstecher die Küste ab. Ratter stand unter ihm, am Fuß des Niedergangs, und De Haan rief laut, »Hat sich da heute Morgen was gerührt?«
»Eine der Wachen hat einen Lkw gesehen, etwa um sechs Uhr dreißig.«
»Da oben ist eine Straße?«
»Nicht auf sämtlichen Karten, die wir haben – vielleicht ein Ziegenpfad. Die Straße liegt weiter landeinwärts.«
»Was für ein Lkw?«
»Ich hab nur eine Staubwolke gesehen, die sich nach Norden bewegte.«
De Haan schaute noch einmal durch sein Glas, diesmal langsam und genau, doch nichts.
Schon um zehn Uhr zwanzig standen sie wieder unter Dampf. Ganz hinten am Horizont lag eine Wolkenbank, doch weit im Westen, und diese Küste bekam nur selten Regen ab, so dass De Haan sich einigermaßen sicher fühlte. Die Noordendam gab es nicht mehr, ihr Name war abgeschliffen, weggeschmirgelt; sie war ab jetzt die Santa Rosa, wie an Bug und Heck zu lesen war, mit Heimathafen Valencia, so stand es darunter. Van Dyck fiel die Aufgabe zu, den Namen auf den Rettungsringen des Schiffs zu ändern, was am späteren Vormittag geschehen sollte.
Als sie weiter nach Norden fuhren und aufs offene Meer kamen, übergab De Haan Ratter die Brücke. Blieb noch eine einzige Sache zu erledigen – er hätte jemanden damit beauftragen können, was an und für sich ganz normal gewesen wäre, doch aus welchem Grund auch immer hatte er das Gefühl, dass er das selbst übernehmen müsse. Und so ging er zum Heck, entfaltete die spanische Flagge und hisste sie am leicht geneigten Mast. Er hatte in das an Bord befindliche Exemplar des Lloyds Register geschaut und wusste daher, dass die Santa Rosa auf eine schillernde Geschichte zurückblicken konnte. Sie war einmal die Kavakos aus Piräus gewesen, 1921 in der Athenides-Werft gebaut; danach die Maria Viasos aus Larnaka, ehemals Huittinen, Helsinki, und dann erst, seit 1937, die Santa Rosa aus Valencia,
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