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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Furst
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erlauben.
    Oder war er vielleicht zu streng mit sich? Zufällig wartete er nun einmal auf eine Frau – schon die dritte Nacht wartete er auf sie – und er hatte ganz hinten auf dem obersten Schrankfach eine Flasche Aprikosen-Brandy versteckt – vor sich selbst wie vor jedem anderen. Diese Frau, die alle nur als Fräulein Lena kannten, war seine einzige Kontaktperson in Hamburg, und er hatte sich mit ihr in Verbindung gesetzt, als die Von Scherzen nicht im Hafen erschien. Sie hatte irgendwie, und über dieses Irgendwie ließ sich viel spekulieren, seine missliche Lage Mr. Brown signalisiert, und jetzt war es an ihr, ihm die geänderten Reisepläne zu unterbreiten, die Hamburg über ein geheimes Funktelefon erreichen würden.
    Kein geheimes Gerät konnte aus Deutschland funken – die Gestapo hörte alle Frequenzen mit und würde für eine Standortbestimmung nicht lange brauchen –, doch kodierte Botschaften konnte man immer noch empfangen. Eine ähnliche Situation wie bei Schiffen auf See, ob nun Kriegs- oder Handelsmarine, die Sendungen mithören konnten, ihrerseits aber Funkstille wahren mussten. Entbehrte nicht der Ironie, dachte Kolb, auf diese Weise hatten die Regierungen der Krieg führenden Nationen ein willkommenes Maß an Überwachung erreicht: Man konnte nur instruiert werden, aber keine Fragen stellen oder Widerworte geben.
    Und so wartete er als notgedrungen guter Soldat auf seine Befehle. Ein gewisses Maß an Spekulation gestattete er sich doch, nämlich: Falls Fräulein Lena mit Anordnungen in sein Zimmer käme, wie er aus dieser elenden Stadt geschmuggelt werden sollte, konnte sie ihm dann nicht auch eine Stunde zärtlichen Vergessens gewähren? Kolb schloss die Augen und legte die Zeitung zu Boden. Gelobt sei die Vorsicht, gewiss, doch mit Lena verband ihn ein geheimes Leben – vielleicht war sie dann auch gegen ein heimliches Rendezvous nicht abgeneigt? Würde er sie zu fragen wagen? Sie war farblos und unscheinbar, irgendwo in den mittleren Jahren, ziemlich schwer und gänzlich in Korsetts gezwängt, doch in seiner Phantasie quoll ihre eiserne Körpermasse ungehemmt und überaus schön und üppig hervor, sobald man sie – Gott allein wusste, wie – löste.
    Nein, er würde es nicht wagen. Das Leben hatte ihn eines gelehrt: Traue keinem. Hätte er das nur früh genug gelernt, wäre er jetzt nicht in dieser Stadt, in diesem trostlosen Zimmer mit Gardinen, an denen grüne Ritter über ein gelbes Feld sprengten. In Linz hatte sein Vater als Bankangestellter gearbeitet, und der junge S. Kolb war nach seinem Volksschulabschluss als Lehrling in derselben Bank untergekommen. Wo er ein Jahr später dabei erwischt wurde, Geld zu unterschlagen, indem er einen kleinen Teil der Summen auf ein Konto auf seinen eigenen Namen überwies. Er wurde zur Rede gestellt, gedemütigt, entlassen, und ihm drohte strafrechtliche Verfolgung. Seine Familie konnte den Fehlbetrag jedoch unter größten Schwierigkeiten ersetzen, und so verzichtete man darauf, die Polizei einzuschalten.
    Doch er hatte das Geld nicht gestohlen. Jemand anders – er hatte einen hochrangigen Beamten in Verdacht – hatte es getan und eine Spur gelegt, die zu ihm führte. Das versuchte er, seinen Eltern klarzumachen, und sie wollten ihm glauben, doch im Innern ihres Herzens konnten sie es nicht. Und so lernte er die unbarmherzige Lektion: Das Leben wurde von Täuschung regiert, und von Macht. Nicht die goldene Regel, sondern die eiserne. Kolb musste seine Heimatstadt verlassen, schaffte es jedoch mit Ausdauer und Fleiß, eine Anstellung als Sekretär in einem der Staatsministerien in Wien zu finden. Im Rüstungsministerium, wie es sich traf. Und es dauerte nicht lange, bis er, in einem Café in der eleganten Kärntnerstraße, einer freundlichen jungen Frau begegnete, die ihn nach einer Weile einem weniger freundlichen, ausländischen Herrn vorstellte, der ihm eine schlaue Methode verriet, sein bescheidenes Gehalt aufzubessern.
    Das war vor vielen ausländischen Herren, musste er wehmütig denken – in den längst vergangenen Tagen eines Mr. Hall oder Mr. Harris oder Mr. Hicks. Der mollige alte Brown war vor nicht allzu langer Zeit, erst letzten Januar, plötzlich auf der Bildfläche erschienen. Nett und, wie im Grunde alle, geizig mit Informationen – nur ja nichts erklären, wenn es sich vermeiden ließ.
    In dem langen Flur, der an seinem Zimmer vorbeiführte, hörte Kolb Schritte, schwere Schritte, die jedoch an seiner Tür

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