Die Stunde des Wolfs
dicken Papierhüllen befanden. Dahinter schon die Noordendam: das endlose Surren und Rattern der Ventilatoren, das Knarren des Schiffs, wenn es sich aus einem Wellental erhob, die Schritte des wachhabenden Offiziers auf der Brücke über seiner Kajüte, Klingeln zu jeder halben Stunde und die Maschine, die unter ihm rhythmisch dröhnte – würde sie auch nur einen Herzschlag lang die Luft anhalten, würde ihm das Blut in den Adern pochen, bevor er auch nur wüsste, was er gehört hatte. Und, jenseits der Noordendam, der Klang des Windes und der See.
Dieser Gegenwart, dieser unablässigen Musik in all ihren Stimmungen, konnte man sich nicht entziehen. Sie schickte ihn auf Wanderschaft, durch sein eigenes und das Leben in den vierzig Büchern seiner Bibliothek. Den gelesenen, den ungelesenen und den oft gelesenen. Ein paar holländische Klassiker – Multatulis Max Havelaar sowie Louis Couperus – und ein paar nicht ganz so klassische Werke. Ein Trio Biografien von Militärs sowie ein Haufen dicke historische Schinken, die ihm gute alte Freunde waren, wenn er sich zu müde für etwas anderes als seine eigene Sprache fühlte. Eine holländische Übersetzung von Shakespeares Dramen diente eher der Zierde in seinem Regal denn als Lektüre, auch wenn er sich schon mehr als einmal durch Heinrich V. durchgeackert hatte, da es sich wie ein Roman las.
Conrad natürlich. Bei dem ein polnischer Kapitän zur See einen aussichtslosen Kampf mit einem Londoner Literatenemigranten ausfocht. Er besaß den Spiegel der See, den er in Erwartung von etwas Philosophischem gekauft, aber schon bald schuldbewusst und mit dem Versprechen aufgegeben hatte, ihn sich bald wieder vorzunehmen und es diesmal besser zu machen. Den fürchterlichen Nostromo, großartig geschrieben, doch so abgrundböse und -elend in seiner Handlung, dass man es lieber nicht las; Das Herz der Finsternis, das er mochte; ebenso Der heimliche Teilhaber – war es tatsächlich möglich, sich eine Kajüte so zu teilen? – und Lord Jim, eine richtige Seegeschichte, und eine gute obendrein. Ein Bruder seiner Mutter hatte praktisch so ein Leben geführt, außer dass er, als er angesichts eines Feuers, das in der Malakka-Straße in der Jutefracht ausbrach, nicht gesprungen war, und dass sein Schiff tatsächlich sank und Onkel Theo mit in die Tiefe riss.
Conrad bildete den gleitenden Übergang zu dem, was er wirklich mochte, Abenteuergeschichten mit intellektuellen Helden. Davon gab es nicht allzu viele, doch die wenigen nahm er immer wieder gern zur Hand. Die sieben Säulen der Weisheit, die Geschichte eines Offiziers im Geheimdienst, den T. E. Lawrence während des Großen Kriegs ausschickt, um eine arabische Rebellion gegen die Türken anzuzetteln, die an der Seite Deutschlands kämpfen. Dann auch Malraux: So lebt der Mensch und Die Hoffnung auf Englisch, und selbst Stendhal, Rot und Schwarz. Die Kartause von Parma vom ›Husaren der Romantik‹, der als Offizier unter Napoleon in all den verzweifelten Schlachten des Russlandfeldzugs gekämpft hatte und sie überlebte, so dass er Romane schreiben konnte. Die hatte er auf Holländisch, ebenso wie Krieg und Frieden, einen Roman, den er in den düstersten Momenten seines Lebens auf See lesen und aus dem er irgendwie, fast auf magische Weise, Trost empfangen konnte – eine Welt für sich.
De Haan sah auf die Uhr, es war gleich halb fünf Uhr morgens. Er zündete sich einen Zigarillo an und blickte in die Rauchschwaden, die langsam in die Höhe stiegen. Sie fuhren jetzt, bereits seit einer Stunde, ganz langsam, während Ratter und der Bootsmann die Vorbereitungen für den Anstrich überwachten. Er hörte das Quietschen des Flaschenzugs, laute Anweisungen, einen Fluch, ein Lachen – in Angriff genommene Arbeit war Musik in seinen Ohren. Das Bullauge blieb schwarz, doch die erste Morgendämmerung wartete schon irgendwo da draußen, und bald würden die Motoren verstummen, er würde die Dampfwinden an Deck und das langsame Ratschen der heruntergleitenden Ankerkette hören.
De Haan überflog noch einmal sein Bücherregal mit den verblichenen Einbänden – die Seeluft tat Büchern nicht gut – hinter seinen nautischen Jahrbüchern, seinem Bowditch, The American Practical Navigator, Nicholls Deviation Questions and Law of Storms, dann seine Wörterbücher bis zum Baedeker für Frankreich am Ende des mittleren Fachs und ein paar Romane auf Französisch. La Maison de ma Mère , La Vagabonde , Claudine à Paris und
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