Die Stunde des Wolfs
nunmehr Eigentum der Cardenas Dampfschifffahrtsgesellschaft SA.
Ein neues Leben, dachte De Haan, als die Flagge in der Brise peitschte. Geisterschiff, Abteilung IIIA, London. Ihrem gefälschten Ladungsverzeichnis nach auf dem Weg in den türkischen Hafen von Izmir, um eine Fracht Tierhäute, Tabakballen und Haselnüsse aufzunehmen.
9. Mai. Hamburg.
S. Kolb.
So lautete der Name in seinem letzten Pass – ein Niemand aus dem Staate Nirgendwo. Er war, von einem dunklen Haarkranz abgesehen, kahl, trug Brille, einen spärlichen Schnauzbart – ein kleiner, unbedeutender Mann in einem schäbigen Anzug. Er lag auf dem Bett im obersten Stock einer Pension in der Zeilerstraße nicht weit von den Docks, in einem engen Zimmer mit einem Fenster. Es war eine laue, windstille Nacht, und die Gardinen hingen schlaff in der abgestandenen Luft. In die Stille außerhalb der Stadt drang nur ab und zu ein Nebelhorn von der Elbe unweit des Hafens.
S. Kolb bewohnte dieses Zimmer seit zehn Tagen und verbrachte die meiste Zeit damit, auf dem Bett zu liegen und Zeitung zu lesen. So verlief im Wesentlichen sein Leben, außer wenn er arbeiten musste, was nur hier und da vorkam und dann auch nur für eine Stunde oder auch zwanzig Minuten. Doch in Hamburg hatte er überhaupt nicht gearbeitet, denn das hier war nur Zwischenstation. In Düsseldorf hatte er zuletzt einen Mord begangen, und in Karlsruhe ein Papier an sich gebracht.
Das Papier, das die technische Beschreibung einer Maschine enthielt, hatte er sichtbar in seiner Aktentasche in einem Ordner mit ähnlichen Papieren versteckt. Nichts Ungewöhnliches bei einem Vertreter für Industriemaschinen, der angeblich für eine Firma in Zürich arbeitete. Kein Grenzbeamter, nicht einmal ein SS-Offizier an einem Montagmorgen, würde merken, dass es von Bedeutung war. Und das war es möglicherweise tatsächlich, dachte er, auch wenn er zu den Leuten gehörte, die schon immer den Verdacht hegten, dass am Ende gar nichts von Bedeutung war, ein Grundsatz, auf dem er mehr oder weniger sein Leben errichtet hatte.
Von tatsächlicher Bedeutung war im Moment eine Nachricht von einem Engländer namens Brown. Ein ehrenwerter Allerweltsname, dachte er, wohl klingend, was ein wohl temperiertes Leben suggerierte – von dem ab und zu erforderlichen Revolver oder Dietrich einmal abgesehen. Natürlich hieß er in Wirklichkeit ebenso wenig Brown wie er selbst Kolb, wenn auch allenfalls in gewissen Aktenschränken eine Unterscheidung getroffen wurde, wo Brown als Deckname diente und S. Kolb als alias. Mr. Brown, ein pummeliger, gesetzter Mensch, der sich mit Pfeife und Pullover vor der Welt versteckte, war in diesem Moment dafür verantwortlich, S. Kolb aus Hamburg herauszuschaffen, und S. Kolb fragte sich gerade zum hundertsten Mal, wie zum Teufel er das anzustellen gedachte.
Vor sechs Tagen war das Dampfschiff Von Scherzen nicht im Hamburger Hafen erschienen, und während die Männer im Hafenbüro ihm nicht genau sagen wollten, was aus dem Schiff geworden war, verfinsterten sich ihre Gesichter auf eine bestimmte Weise, die ihm sagte, dass es am Meeresgrund lag. Jedenfalls würde es nicht zu dem Konvoi deutscher Schiffe gehören, die mit Geleitschutz planmäßig nach Lissabon auslaufen sollten. Er würde, so unterrichteten sie ihn, warten müssen, bis sich auf einem anderen Schiff eine Koje für ihn fand, und sie bedauerten aufrichtig die Unannehmlichkeit.
Das Bedauern war ganz auf seiner Seite. Hier ging es um eine schwierige Arbeit, zu gleichen Teilen mit Gefahr, Vorsicht und Warterei verbunden, eine Mischung, die, gelinde gesagt, an den Nerven zerrte. Die traditionellen Beruhigungsmittel dafür waren Alkohol und Sex – was allerdings ein erhöhtes Risiko mit sich brachte und erhöhte Vorsicht erforderte, doch irgendetwas musste man schließlich tun. Es konnte einen in den Wahnsinn treiben, immer nur Zeitungen zu lesen. Immerhin aber waren Zeitungen ein sicherer Zeitvertreib – Frauen nicht. Natürlich wusste er, dass es im Hamburger Hafen von Prostituierten nur so wimmelte, man konnte alles haben, was man bezahlen konnte, doch viele der Männer, die sie aufsuchten, reisten bekanntlich allein und fern der Heimat, und solche Männer waren, besonders unter dem gegenwärtigen Regime, von Interesse für die Polizei. Vorsicht und Selbstdisziplin hatten S. Kolb am Leben erhalten, doch jetzt schnürten sie ihm die Brust immer enger zu, und er seufzte resigniert. Nein, sagte er sich, das kannst du dir nicht
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