Die Stunde des Wolfs
Stunden verbrachte er dort und horchte auf das Glöckchen, das jedes Mal läutete, wenn die Tür aufging; auf das Geschwätz zwischen Kunde und Verkäufer, das energische Klingeln der Registrierkasse. Endlich ließ sich der Mann vom Kunstmuseum, ein Fahrrad an der Hand, wieder blicken und erklärte S. Kolb, er werde in das Dorf Kehl fahren, wo er sich in einem bestimmten Haus in der Nähe der Rheinbrücke melden solle, damit ihn ein gewisser Jemand aus Deutschland hinausschaffte.
So viel also zu Baden-Baden. Ein kleiner Mann mit Haarkranz, Brille und spärlichem Schnauzer, in einem abgetragenen Anzug, der ein Fahrrad durch die blitzblanken Straßen schob – ganz offensichtlich gehörte er einer anderen Welt an als diese strahlenden SS-Götter. War das etwa, hm, ein Jude? Ein paar irritierte Blicke schienen genau das zu sagen, doch niemand sagte etwas. Baden-Baden war gleichbedeutend mit Gesundheit, Vitalität, einem sauberen Geist in einem sauberen Körper bei Tage. Und körperlicher Ertüchtigung bei Nacht – allerdings! –, deshalb verschwendete niemand auch nur einen Gedanken an den schmuddeligen S. Kolb. Solange er kein Hotel oder Restaurant betrat, durfte er sein Fahrrad die Straße entlangschieben. Einer von ihnen winkte ihn weiter, Na, wird's bald?
Das machte ihn so nervös, dass er aufstieg und versuchte zu fahren. Doch der Sattel war zu niedrig, und er musste die Beine zu stark anwinkeln, so dass er zuerst nach rechts und dann nach links ausschwenkte und schließlich unter dem lauten, kernigen Lachen der SS von dannen rollte. Natürlich würde er nach und nach die meisten von ihnen mithilfe des einen oder anderen Papiers ans Messer liefern, doch dies war offensichtlich nicht der Zeitpunkt, sie daran zu erinnern. Auf der Straße nach Kehl fiel er nur zweimal hin, und als er dort eintraf, erwartete ihn eine Überraschung.
Eine achtzigjährige Frau, wenn nicht älter, die ihn, mit Mütze und allem Drum und Dran, in die Uniform eines Zoowärters steckte, packte seinen Anzug in ein Köfferchen, drückte ihm Papiere einschließlich Passfotos – die ihm einigermaßen ähnlich sahen – in die Hand und nahm ihn mit über die Brücke nach Strasbourg. Sie konnte kaum laufen und musste sich mit der Linken an ihm festhalten, während sie sich mit der Rechten an einen Gehstock klammerte und so vornübergebeugt war, dass er sich zu ihr hinunterlehnen musste, wenn sie etwas sagte. »Die machen mir an der Grenze keine Schwierigkeiten, und sie werden Ihnen auch keine machen.« Und tatsächlich blieben sie unbehelligt, als er Mütterchen nach Frankreich hinüberhalf. Dennoch flackerte ihm das Herz, während sie Schlange standen, und die Alte wusste es und drückte seinen Arm. »Nun beruhigen Sie sich doch«, sagte sie.
Kaum hatten sie den Kontrollposten passiert – völlig reibungslos für sie beide –, erklärte sie, dass sie mit dem Zug zurückfahren würde, und er versuchte, ihr zu danken, doch ihr lag nichts an Dankbarkeit. »Die Schweine haben meinen Sohn auf dem Gewissen«, sagte sie, »und auf diese Weise bedanke ich mich bei ihnen.« Er brachte sie noch zum Zug nach Kehl und sah sich anschließend nach einem passenden Hotelzimmer um.
Es war anders hier, das merkte er immer sofort, es roch ganz anders. Denn hier in Strasbourg war immer noch Frankreich – allen Erlassen zum Trotz, wonach das Elsass im Gefolge der Kapitulation von 1940 wieder deutsches Staatsgebiet war. Immer noch Frankreich – trotz Besatzung, trotz Vichy, trotz seiner eigenen Polizei, die sich mit der Gestapo messen konnte und es manchmal noch schlimmer trieb. Dennoch Frankreich – wo eine Flucht immer möglich war. Das machte das Französische aus.
31. Mai. Algeciras, Spanien.
Die Überquerung der Straße von Gibraltar von Tanger bis zum Hafen von Algeciras dauerte drei Stunden. In dem schmalen Durchgang zum Mittelmeer herrschte eine starke Strömung, so dass U-Boote nicht herauskamen, ohne aufzutauchen, was auf dieser Strecke zu denkwürdigen Überfahrten führen konnte. Doch nicht an diesem Tag; das Wasser glitzerte in der Sonne, die arabischen und marokkanischen Passagiere suchten unter dem Sonnensegel Schutz, während es De Haan gelang, ein bisschen für sich zu sein und an einem Stück Reling achtern auf die afrikanische Küste zurückzublicken. Ein zweiter Funkspruch von der Naval Intelligence Division, von Wilhelm entschlüsselt und ausgehändigt, hatte ihm Anweisung zu diesem Treffen erteilt. Mit seinen obskuren
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