Die Sturmreiterin - Hennen, B: Sturmreiterin
Gabriela einen Dienst erweisen konnte.
Nachdem der alte Chirurg gegangen war, nahm Gabriela auf dem Stuhl neben dem Bett Platz. Ihr Onkel war nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Wangen waren eingefallen, die Stirn von tiefen Falten zerfurcht. Fast hatte es den Anschein, als habe er sich aufgegeben. Er kämpfte nicht mehr … Sein Atem war nur mehr ein heiseres Röcheln. Wütend ballte Gabriela die Fäuste. Alt und krank im Bett zu sterben! Sie wusste, dass er sich davor gefürchtet hatte! War sie schuld daran, dass er seine Liebe zum Leben verloren hatte? Seit dem Tod Caspars kränkelte er … Was hatte er in jener Nacht nur getan, dass er nun mit seiner Lebenskraft dafür bezahlte? Ihr hatte er nie verraten wollen, was dort am Fluss vor sich gegangen war. Trotz all ihrer Mühen hatten die Schiffer und die Suchtrupps keine Leiche finden können, sodass in Caspars Sarg nicht mehr als sein Dreispitz und das mit Blut besudelte Hemd lagen.
Von Bretton brummte etwas Unverständliches und stieß einen langen Seufzer aus. Gabriela fluchte leise. Kalte Angst war in ihrem Herzen. Sie war sich sicher, wenn sie nichts fand, wofür ihr Onkel leben wollte, dann wäre es noch vor Ende des Monats vorbei mit ihm. Sie dachte an den Speicher. Was auch immer dort oben verborgen lag, es musste dem alten Pfeifenkopf sehr wichtig sein. Vielleicht gelang es ihr, ihm die Lust zu leben zurückzugeben, wenn sie nur wüsste, was sich hinter der stets verschlossenen Tür verbarg.
Einen Moment lang zögerte sie noch, dann stand sie auf und begann, nach dem Schlüssel zu suchen.
Da Branko auf der Schwelle zum Zimmer des Generals schlief, war die kleine Kammer vor dem Speicher, in die sie ihr Onkel so lange eingekerkert hatte, nun verlassen. Gabriela stellte den schweren Kerzenständer ab und drehte den Schlüssel im Schloss zum verbotenen Speicher um. Für einen Moment lauschte sie, ob sich irgendein Geräusch regte. Es war mitten in der Nacht, und eigentlich sollten alle schlafen … Nicht einmal der Wind war zu hören. Endlich fasste sie sich ein Herz und öffnete die Tür. Auf dem Speicher war es finster wie in einem Grab. Gabriela bückte sich nach dem Kerzenständer und trat dann ein. Der muffige Geruch von altem Staub und verrottendem Stoff schlug ihr entgegen. Verwundert hob sie das Licht. Wohl hundertmal hatte sie sich ausgemalt, was hinter dieser Tür verborgen sein mochte, doch damit hatte sie nicht gerechnet. Von den Dachbalken hingen Dutzende Kleider. Manche waren fadenscheinig und mottenzerfressen, andere sahen aus, als hätte sie gerade erst der Schneider gebracht, und doch … Sie war in der Mode nicht sehr bewandert und hatte sich nie dafür interessiert, was eine Dame von Stand zur nächsten Ballsaison tragen sollte, aber dass hier etwas nicht stimmte, bemerkte selbst sie. Auch die neuen Kleider wirkten auf schwer zu beschreibende Art alt. Ihr Schnitt, die übertriebene Dekoration mit Seidenschleifen … So etwas trug niemand mehr!
Vorsichtig strich sie mit der freien Hand über eines der Kleider. Der Stoff war feinstes Leinen und weich wie ein Katzenfell. Er musste ein Vermögen gekostet haben! Wem gehörten diese Kleider? Ihrem Onkel? Sie dachte an den Namen, den von Bretton immer wieder im Fieber murmelte. Juliette … Hatte sie die Kleider getragen? Doch wo steckte sie? Warum war sie nicht zum Silvesterfest gekommen?
Unsicher ging Gabriela weiter. Sie hielt den Kandelaber jetzt ganz tief, denn sie fürchtete, dass die Kerzen eins der Kleider in Brand setzen könnten. Durch die offene Tür zur Dachkammer zog kalter Wind. Sanft schwangen die Kleider an ihren Haken. Leise raschelte der Stoff. Im flackernden Licht schien es ganz so, als feierten die Geister von Olmütz einen Ball und wiegten sich sanft zu lautloser Musik.
Heißer Wachs rann Gabriela über die Finger. Vor ihr stand ein mit Goldschnitzereien verzierter Sessel, dessen grüner Brokatbezug fast durchgescheuert war. Dem Sessel gegenüber lehnte ein lebensgroßes Bild an einem der hölzernen Pfeiler, die die Dachbalken trugen. Es zeigte eine junge Frau im Kostüm einer Schäferin. Ihr Kleid war blau wie Kornblumen, und sie trug eine schneeweiße Schürze darüber. In der Linken hielt sie einen Strohhut, mit der Rechten einen gebogenen Hirtenstab. Ungewöhnlich blass erschien Gabriela die Frau. Doch mochte die Farbe des Gemäldes vielleicht mit den Jahren verblichen sein. Das Gesicht der Fremden wirkte streng und zugleich auch sinnlich. Ihr schwarzes Haar
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