Die Sturmrufer
schwer. Der Anblick fuhr ihr wie eine Faust in den Magen. Das passte nicht zur strahlenden Stadt Dantar, von der sie geträumt hatte.
»Magierbrut!«, brüllte ein Fischer. »Monis wird euch alle jagen und finden!«
Amber wich zurück. Magier? Sie betrachtete die Gefangenen. Noch nie hatte sie einen Magier gesehen – und die Vorstellung, dass diese drei Männer vielleicht tatsächlich Stürme herbeirufen konnten, rief Unbehagen und Scheu in ihr hervor. Dennoch – so, wie sie auf dem Balkon standen, grau und erloschen, sahen sie einfach nur aus wie bedauernswerte Menschen.
»Amber! Hier bist du ja!« Amber machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Inu war neben ihr aufgetaucht. Beim Blick auf das Getümmel runzelte er besorgt die Stirn und gab ihr ein Zeichen. Amber duckte sich und schob sich durch die wütende Menschenmasse.
»Hängt sie! Hängt sie!« Das Gebrüll machte sie beinahe taub. Erst als sie einige Häuserecken weiter wieder neben Inu stand, atmete sie auf.
»Was geht hier vor?«, fragte sie atemlos. »Wer sind die Gefangenen? Kennst du sie?«
»Es sind Schuldige«, sagte er knapp. »Besser, wir verschwinden hier.«
»Sie werden wirklich hingerichtet? Einfach so?«
Inu runzelte die Stirn, aber Amber spürte, dass sie mit ihrer Frage einen wunden Punkt getroffen hatte. »Sie werden behandelt, wie das Gesetz von Dantar es vorschreibt.«
»Glaubst du denn, dass sie schuldig sind?«
»Wenn der Rat es beschließt, sind sie es.«
»Aber… diese Leute kommen aus Dantar! Welcher Dantarianer würde seiner eigenen Stadt Schaden zufügen wollen?«
Inu warf ihr einen unergründlichen Blick zu, der sie verstummen ließ. In seinen Augen flackerte etwas, was sie verwirrte. Für einen Augenblick war sie sich nicht sicher, ob sie ihn richtig einschätzte. Billigte er die Hinrichtungen wirklich?
»Hör zu, Amber. Es ist schwer, ein solches Gesetz zu begreifen und zu akzeptieren. Aber Dantar hat seine eigene Geschichte – und die Geschichte jeder Familie in dieser Stadt ist damit verwoben. Magier sehen aus wie gewöhnliche Menschen, ja. Aber sie denken nicht wie gewöhnliche Menschen. Es ist schon einmal passiert, dass meine Stadt in Gefahr war. Die Magier von damals stammten aus Dantar – und sie wollten die Stadt für sich haben. Für dieses Ziel nahmen sie es sogar in Kauf, ihre Heimat zu vernichten. Das ist nicht zu verstehen, aber es ist genau so geschehen.«
Amber senkte den Blick und betrachtete den gepflasterten, makellosen Boden. Wenn sie den Mund aufmachte, würde sie zugeben, dass es sehr wohl zu verstehen war. Gleichzeitig machte dieser Gedanke ihr wieder Angst.
»Urteile nicht unbedacht über uns und unsere Gesetze«, sagte Inu. »Nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick scheint.«
»Ich urteile nicht mehr über dich als du über uns Meerländer aus den Bergen«, murmelte sie.
Inu zog die Braue hoch und lächelte. »Du hast mich ertappt, Amber. Und um es zuzugeben: Nein, ich mag diese Hinrichtungen nicht. Und ich ertrage den Anblick der Verurteilten ebenso wenig wie du. Aber es ist meine Stadt und unser Gesetz. Willst du jetzt noch Arbeit oder nicht? Unser Boot wartet!«
*
Der Teil der Stadt, den sie bald darauf betraten, hatte weitaus mehr Schaden genommen als die Marktplätze und Gassen. Umgestürzte Boote lagen überall, das Wasser hatte mehrere Werkstätten der Bootsmacher säuberlich ausgewaschen. Amber erschien es seltsam, dass die breite Straße direkt ins Meer führte. Ein paar Längen sah man noch ein Stück Straße unter der Wasseroberfläche schimmern, doch schon bald verlor sie sich in dunkelblauer Tiefe. Amber bekam bei diesem Anblick weiche Knie. Die Tiefe!
»Hat sich das Wasser hier nicht zurückgezogen?«, fragte sie Inu. »Es sieht so aus, als würde unter Wasser noch ein Teil der Stadt liegen.«
Der Seiler brauchte offenbar einige Augenblicke, um zu begreifen, worauf sich ihre Frage bezog.
»Ach so«, meinte er dann. »Nein, die Verwüstung stammt nicht von diesem Sturm. Der Stadtteil hier wurde vor zwölf Sommern von dem ersten dieser Stürme und einer großen Flut heimgesucht. Dieser Teil der Landzunge wurde vollständig zerstört. Seitdem nutzen nur noch die Bootsbauer die verbliebenen Gebäude als Lagerhallen und Werkstätten. Auf der ehemaligen Hafenstraße kann man die Boote gut zu Wasser lassen, siehst du?«
Er deutete auf einen Bootsmacher, der ein winziges Ruderboot ins Wasser zog und prüfte, ob es dicht war.
Als Werkstatt hätte Amber den
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