Die Sturmrufer
erkannte Inu nun auch die Fremde. Bisher hatte sie stumm im Sand gekauert, doch jetzt stand sie schwankend auf. Ihr Taumeln verriet, dass das Festland unter ihren Füßen noch tanzte, dennoch blieb sie nicht sitzen oder fing an zu kriechen, obwohl das viel einfacher gewesen wäre. Ebenfalls typisch: Für Landleute war es immer das Wichtigste, auf die Beine zu kommen und den Boden zu beherrschen. Fasziniert betrachtete er sie. Ob sie wusste, dass sie auf eigentümliche Weise schön war? Sogar im Mondlicht glaubte er ihre Augen bernsteinfarben leuchten zu sehen. Bestimmt hatte sie nun wieder diesen misstrauischen Gesichtsausdruck.
»Inu? Geht es dir gut?« Das war Sabin und Inu liebte sie in diesem Augenblick schmerzlicher als je zuvor – dafür, dass sie fragte, dass sie ihn nicht zurückließ.
»Ich bin nicht verletzt«, antwortete er dennoch schroff. Tanijen schwieg, aber Inu wusste, dass der Navigator ihn im Dunkeln beobachtete. Heute fiel es ihm besonders schwer, seine Gleichgültigkeit Tanijen gegenüber zu bewahren. Für einen Augenblick sah er sich und seinen Freund vor vielen Sommern, als sie das Ruderboot von Inus Bruder gestohlen hatten, um den legendären Friedhof der Naj zu suchen. Aber alles, was sie gefunden hatten, war ein sehr lebendiger und ziemlich wütender Naj gewesen, der ihr Boot kurzerhand versenkt hatte. Die ganze Nacht hatten sie gemeinsam auf einer schmalen Sandinsel ausgeharrt, bis sie von einigen Fischern gerettet worden waren. Inu erinnerte sich an die Kälte, die Angst und die Erschöpfung. Aber ebenso gut erinnerte er sich daran, wie sie sich gegenseitig Mut gemacht hatten. Und an Tanijens Stimme in der Dunkelheit. Die ganze Nacht über hatte er Geschichten erzählt, um sie beide wach zu halten. Nun, diese Zeiten waren seit vergangenem Winter endgültig vorbei. Sein Freund war nicht länger sein Freund.
»Amber, komm zu uns!«, rief Inu der Fremden zu. »Wir müssen zusammenrücken, sonst holen wir uns das Eisfieber.« Beim Gedanken daran, dass sie hätten sterben können, kam seine Angst zurück, die wilde Angst, die er bisher bezähmt hatte – sie alle hatten sie bezähmt, weil die Fremde im Boot war. Und auch jetzt sprach niemand über die vergangenen Stunden. Erstaunlich, wie die Gegenwart eines Bauernmädchens sie veränderte.
*
»Inu!« Sabins Stimme, kalte Tropfen, die ihm auf die Wangen fielen, und ihre nasse Hand an seinem Arm. Im Wind verwandelte sich die nasse Stelle sofort in einen kalten Fleck.
Inu öffnete die Augen und blickte auf Sabins Kristallbrille, in der er sich spiegelte: ein verwirrt dreinblickendes Gesicht, an dem Sand klebte. Die Nacht war vorbei, er musste trotz des Windes und der Kühle eingeschlafen sein. Sabin setzte sich neben ihn und nahm die Taucherbrille ab. Ihre Lippen waren blau, an ihren Oberarmen zeichnete sich Gänsehaut ab. Die Fischhaut klebte an ihrem Körper und ließ sie mehr denn je wie ein Meerwesen erscheinen.
Inu setzte sich langsam auf und zog die Knie an den Körper. Jeder Knochen schmerzte, an seinem Rücken pochten Blutergüsse. Nun, dachte er, jetzt sehe ich aus wie Amber.
Er blickte sich um und entdeckte, dass sie in einem schmalen Strandkessel gelandet waren. Schwarzes, glattes Felsgestein fasste den sandigen Bogen Strand ein. Trümmerholz lag dort – und mit einem Schaudern erkannte Inu, dass auch der Tote angeschwemmt worden war. Zum Glück war er immer noch in das Tuch gewickelt.
Tanijen stand bis zu den Knien im Wasser und betrachtete den Horizont. Für einige Augenblicke widerstand Inu der Versuchung, aufzuspringen, zu ihm zu gehen und sich zu vergewissern, dass er wirklich unverletzt war. Er wollte ihm den Arm um die Schulter legen und ihm sagen, dass er Angst um ihn gehabt hatte. Aber dann kehrte die Erinnerung an den Streit zurück und mit ihr die Ernüchterung.
»Hier!«, sagte Sabin. »Hast du Durst?«
Sie hob eine silbern glänzende Scheibe hoch, verziert von einer roten Ranke. Ein Mondfisch. Und die rote Verzierung war ein Blutfaden, der aus der Harpunenwunde floss. Süßwasserblut. Inu musste sich nicht lange überwinden, seine ausgedörrte Kehle und der pochende Durst machten das Mondfischblut zu einem köstlichen Getränk.
»Dieser Wind macht mich wahnsinnig«, fuhr Sabin fort. »Er dreht sich ständig – kein Unterschlupf bietet genug Windschatten, um ihm zu entkommen. Im Meer ist es weitaus gemütlicher als hier.« Sie zögerte. »Bis auf diesen Sog – es scheint eine Ringströmung zu sein,
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