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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: blazon
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der Hand trug sie einen geraden Marjulaast und an ihrem Gürtel hingen zwei tote weiße Vögel, deren Flügel im Wind schlapp wippten wie die Arme eines an den Füßen Gehängten. Amber lachte und klopfte mit ihrem Stock auf den Boden. Eine Feder klebte am Astende. »Sie sind nicht besonders schnell. Sie saßen in einem Marjulabaum und haben mich angeschaut, als hätte ich grüne Ohren.« Ihre Augen blitzten und zum ersten Mal fiel Inu auf, dass sie noch heller strahlten als Bernstein, fast orange wie Katzenaugen. Sie hatte den Schock der vergangenen Nacht gut überstanden – zu gut? Er hatte Leute erlebt, die nach einer überstandenen Gefahr lachten und plötzlich ohne Grund zusammenbrachen. Doch Amber wirkte ganz und gar nicht so, als würde sie zusammenbrechen.
    »Aber das Beste ist: Die Insel ist tatsächlich bewohnt!«, sagte sie nun. Diese Nachricht löschte seine Zweifel aus.
    »Hast du Fischer gesehen? Ist ein Dorf in der Nähe?«
    »Nein, das nicht. Aber hinter der übernächsten Kuppe, auf einer der Landzungen, steht ein Haus mit Aussichtstürmen.«
    Aussichtstürme? Auf den Jellamar-Inseln?
    »Worauf wartest du?«, drängte Amber.
    »Augenblick! Was sind das für Tür…«
    »Wir gehen sofort los. Sag den anderen Bescheid.«
    Inu holte Luft. »Moment mal, Amber. Du kannst hier nicht einfach Befehle erteilen! Wir müssen erst besprechen, was…«
    »Was gibt es da zu besprechen? Wir wählen hier nicht den Fischerkönig. Wir sind gestrandet und klappern mit den Zähnen. Also brauchen wir ein Dach über dem Kopf – zumindest brauche ich eines.«
    Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, hakte die toten Vögel von ihrem Gürtel los und legte sie auf den Fels. Jetzt, da ihre Begeisterung abflaute, entdeckte er doch die Spuren der vergangenen Nacht: tiefe Schatten unter den Augen, die Haut an den Armen aufgeschürft, ihre Wangen von der Sonne verbrannt.
    »Hier. Sucht euch ein windstilles Plätzchen, macht Feuer, bratet die Vögel und denkt nach. Und wenn ihr alles lang und breit besprochen habt, folgt mir – immer geradeaus auf die beiden schiefen Marjulabäume zu. Und von dort aus immer in Richtung der einzelnen Felsnadel.«
     
    *
     
    Inu konnte es nicht fassen. Das Landmädchen war tatsächlich mit großen Schritten aufgebrochen – ganz allein, als würde es nicht zur Gruppe gehören, als gäbe es keine Verbindung, keine Verantwortung. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Und zu allem Überfluss hatte Sabin darauf bestanden, den Toten mitzunehmen, statt ihn am Strand zurückzulassen, wo die Fischer ihn später holen könnten. Inu hatte ein Tragesystem geknüpft, mit dem sie den Ertrunkenen wie in einer geflochtenen Hängematte transportieren konnten. Doch der Körper schien so viel zu wiegen wie ein kleiner Wal. Inu keuchte, als sie die nächste Anhöhe erreichten. Die Seile schnitten tief in seine Schultern, zu seiner Wut kam nun auch noch die Erschöpfung. Hinter sich hörte er das schwere Atmen von Tanijen. Sabin ging ganz hinten, so als wollte sie den Abstand zum Meer nicht zu groß werden lassen.
    Vielleicht fühlte sie sich ebenso unwohl wie Inu? Denn sobald man den Strand hinter sich ließ, wirkte die Insel überhaupt nicht, als würden hier Menschen leben. Es gab keine Zäune, keine Ziegenherden, keine Kreidemarkierungen an den Felsen oder festgestampfte Wege. Disteln trotzten dem Wind und krallten sich auf der hügeligen Insel fest und krumme Marjulabäume, die so alt waren, dass die Zweige ein dichtes, ausladendes Dach über dem Boden bildeten. Der Wind wehte den Duft ihrer kelchartigen Blüten über die Insel und trieb auch ganze Haufen von Vogelfedern vor sich her.
    Inu senkte den Kopf und spannte die Nackenmuskeln an, um den Zug der Seile etwas auszugleichen, als sie über eine niedrige Kuppe gingen. Oben angekommen konnte er die flache, schräge Ebene überblicken, die abrupt an einer Kette von steil abfallenden Felsen endete. Das Gebäude thronte auf einem Felsvorsprung über dem Meer. Soweit Inu von hier aus erkennen konnte, war es ein rechteckiges Gebäude, das von einer hohen Mauer umgeben war. Vier Türme erhoben sich an den Eckpunkten der Mauern. Drei davon bestanden aus Holz und groben Felssteinen. Sie waren dunkel und halb zerfallen. Nur der vierte Turm, der an der steil zum Meer abfallenden Felskante stand, war noch unversehrt. Er bestand aus hellen Steinen und war höher als die anderen.
    Sabin schnaubte. »Was soll das sein? Glaubt diese Amber

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