Die Sturmrufer
wirklich im Ernst, dass in dieser Ruine jemand lebt?«
»Hoffen wir, dass wir nicht auf ein Nest von Hallgespenstern stoßen«, murmelte Tanijen.
*
Von Nahem sah das Gebäude noch viel beunruhigender aus. Die Mauern waren ganz und gar überwuchert. Ranken und Kletterblumen bedeckten sie und ließen sie grün leuchten. Nur an einigen Stellen sah man ausgebleichtes Holz. Das hohe Tor stand weit offen und war ebenfalls umwachsen. Als Inu zwischen die Ranken spähte, entdeckte er, dass die Mauer darunter so aussah, als hätte jemand willkürlich Holz und Bruchstücke von Felsen aufgeschichtet. Neben dem Tor, eingemauert wie das Opfer eines bizarren Kultes, war eine hölzerne Meerjungfrau zwischen Planken und Stämmen eingeklemmt. Purpurfarbene Glockenblumen hingen wie Schmuck zwischen ihren hölzernen Brüsten. Eine Galionsfigur. Zu welchem Schiff mochte sie gehört haben?
Der Wind strich zwischen den Ritzen in der Mauer entlang und wurde zu einem klagenden, einsamen Heulen. Inu senkte den Blick vor den blinden Augen der Nixe, von denen die Farbe längst abgeblättert war, und zögerte.
»Hinein oder hinaus?«, kam Tanijens ungeduldige Stimme von hinten. »Ich spüre meine Schultern nicht mehr.«
Inu überschritt die Schwelle und fühlte ein Frösteln, als würde er durch einen Schleier aus kühler Gischt laufen. Im Hof herrschte Windstille. Inu blieb stehen. Das Bündel hinter ihm pendelte; die Füße des Toten stießen in seine Kniekehlen.
Es war gespenstisch – der Wind war verschwunden. Für einen Augenblick fühlte sich Inu, als würde er schweben.
»Lass ihn runter, Tanijen!«, sagte er leise, ließ das nasse Bündel vorsichtig zu Boden gleiten und streifte sich die Seile von den Armen. Das letzte Seil, das ihn noch mit dem Toten verband, rutschte hinunter und fiel in den Kies.
Rasche Schritte erklangen, dann war Sabin schon an seiner Seite. »Hier wohnt keiner, das sieht doch ein Blinder. Lasst uns gehen und nach Fischerhütten suchen.«
Tanijen und Inu sahen sich zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Reise in die Augen wie früher. Inu wusste, dass sie in diesem Moment genau dasselbe dachten: Und wenn es auf dieser Insel gar keine Hütten gibt?
»Wir müssen erst Amber finden«, meinte Inu und sah sich um.
Der eckige Hof war weitaus kleiner, als man von außen vermutete. Das lag an einem breiten Gebäude, das auf der meerzugewandten Seite von einem Turm zum nächsten reichte. Arkadengänge mit verwitterten Bögen in einem der oberen Stockwerke erinnerten an die Augenhöhlen von verwunschenen Schädeln. Spuren einer alten Pracht waren sichtbar, wilde Trompetenblumen bedeckten die Schwellen. Alle Fenster standen offen. Irgendwo musste der Wind wehen, denn trotz der gespenstischen Windstille schwangen einige der Fensterläden langsam auf und zu, als würden unsichtbare Hände sie öffnen und wieder schließen. Das Unheimlichste aber lag in der Mitte des Hofes: ein Becken, eingefasst in felsige Abgründe wie ein Bergsee – und vielleicht ebenso tief. Seine Form war länglich und sein Wasser tiefschwarz. Nur am Rand spiegelten sich die Arkaden in der Wasseroberfläche.
Ein Sog schien Inu zum Wasser zu ziehen, als hätte ihn jemand um die Hüfte gefasst und versucht ihn dorthin zu führen. Erst als er an sich hinunterblickte, entdeckte er, dass es die Haken an seinem Gürtel waren, die dem unsichtbaren Zug folgten, der immer wieder stärker wurde und nachließ.
»Fühlst du das auch?«, flüsterte Sabin ihm zu. Inu fröstelte und blickte sich um. Natürlich fühlte er es. Eine Gegenwart. Unsichtbare Augen.
Tanijen formte mit seinen Händen einen Trichter um den Mund und holte Luft. »Amber!«, rief er zu den Arkadengängen hoch.
Die Wasseroberfläche erzitterte kaum merklich. Ein einzelner Ring breitete sich von der Mitte aus und lief am weißen Gestein des Ufers aus.
Sabin stürzte zu Tanijen. »Hör auf!«
Tanijen lächelte dieses überhebliche Lächeln, das Inu inzwischen an ihm hasste. »Was ist los? Habt ihr Angst vor Hallgespenstern?«
»Nein, aber vor dem toten Wasser da«, murmelte Sabin. »Sieh dir den Tümpel doch mal an. Als hätte er alles verschluckt, was hier mal gelebt hat.«
Tanijen lachte, dann schritt er zu dem Ufer des Tümpels.
»Tanijen!«, riefen Sabin und Inu gleichzeitig, doch der Navigator hatte bereits eine Handvoll Wasser geschöpft und betrachtete es.
»Kühl, aber sicher nicht tot«, meinte er sehr vernünftig. »Vielleicht wurden hier Muscheln
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