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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: blazon
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Bewohner vertrieben? Waren sie aufgestanden und nach oben gegangen, um von dem Balkon der Arkaden aus zu sehen, was sich in ihrem Hof abspielte? Aber warum duftete es nicht nach Essen und nach dem Wein, mit dem die Glaskelche gefüllt waren?
    Zögernd machte Amber einige Schritte auf den Tisch zu und blieb hinter einem Lehnstuhl stehen. Allmählich schälten sich die Einzelheiten deutlicher aus dem Halbdunkel.
    Das Tischtuch war überhaupt nicht weiß! Ehemals musste es dunkel gewesen sein, beinahe schwarz. Das Weiße war Staub. Auch in den Gläsern türmte er sich und ließ sie aussehen, als würde sich in ihnen heller, trüber Wein befinden. Und auch der Spiegel war nicht blind, sondern nur verstaubt. Die vermeintliche Zierstickerei auf dem Tischtuch war eine sehr reale Ranke, die sich um einen Kerzenleuchter schlang und über den Tisch wucherte. Kein Schmuck, eine echte Pflanze, die aus einer Fuge zwischen zwei Steinfliesen aus dem Boden hervorgekrochen war.
    Ein Stuhl war umgefallen, die anderen waren verschoben, als hätten die Leute, die hier vor wer weiß wie langer Zeit gesessen hatten, den Tisch überstürzt verlassen. Auf einer Silberplatte lag – ebenfalls in einen Mantel aus Staub gehüllt – ein Vogelgerippe. Amber schluckte. Ihr Nacken kribbelte, als würde jemand mit eiskalten Fingern darauf einen Trommelwirbel schlagen. Staub kitzelte in ihrer Nase. Ihre Hände begannen zu zittern und sie schlich auf Zehenspitzen zurück, vorsichtig die Füße in ihre eigenen Fußspuren setzend, die sich auf dem staubigen Boden abzeichneten. Inzwischen hatten sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt und ließen weitere Einzelheiten deutlich hervortreten: Sand und vertrocknete Blüten, die hereingeweht worden waren. Vogelfedern, die der Wind in der Ecke des Raumes zu Haufen getürmt hatte.
    Amber rief sich zur Vernunft. Ein verlassener Saal. Na und? Es gab eine Erklärung dafür – vermutlich hatten die Bewohner das Gebäude verlassen. Nicht jeder hinterließ eine aufgeräumte Wohnung. Doch der nächste Gedanke schickte die Vernunft sofort wieder aus dem Zimmer: Was, wenn die Leute vertrieben worden waren? Amber sah sich um. Natürlich glaubte sie, dass sie beobachtet wurde. So ging es ihr immer in leeren Räumen; auch im Stall oder nachts auf den Weiden hatte sie stets das Gefühl gehabt, dass Augen auf sie gerichtet waren. Und oft genug war es auch so gewesen. Wobei die Augen der Martiskatzen zum Glück im Dunkeln leuchteten.
    Nun aber schien sie nur ein Flüstern zu umgeben, als würden die Gespenster der ehemaligen Bewohner um sie herumschleichen und sich über ihr Eindringen empören. Ihre abergläubische Mutter wäre in Ohnmacht gefallen, aber Amber hatte nicht vor, die Angst gewinnen zu lassen. »He!«, rief sie leise. »Wir sind schiffbrüchig, keine Angst, wir suchen nur Hilfe!«
    Der Ruf wurde von Staub und Alter verschluckt.
    Aber dann… ein Knacken. In den Schatten neben der Tür? Nein, es kam von oben! Staub rieselte auf Amber herunter, ein leichter Hauch nur, der ihre Wange streifte, aber deutlich genug, um alle beruhigenden Gedanken zu vertreiben. Stattdessen sah sie im Geiste Kellerkriecher, die ihre bleichen Zähne wetzten und sich auf spinnendünnen Fingern und Zehen heranpirschten, die erschreckend menschlichen Gesichter ausdruckslos, die Augen aber glimmend vor Gier. Es knarrte wieder – lauter diesmal. Und dann ein Trappeln direkt über ihr, das Amber an krallenbewehrte Pfoten denken ließ. Durch eine schmale Tür am Ende der Treppe gedämpft erklang ein monotones, quietschendes Wimmern.
    Amber überlegte, ob sie Inu rufen sollte, aber ihr Stolz gewann die Oberhand. Verdammt, sie war die vergangenen Jahre mit viel Schlimmerem fertig geworden! In ihrem Leben hatte sie schon unzählige Ziegendiebe mit dem Stock vertrieben. Sie hatten Messer und Schleudern gehabt, sich mit Stöcken und Fäusten gewehrt. Und auch mit Martiskatzen in den Bergen konnte Amber bestens umgehen.
    Sorgfältig prüfte sie alle Gegenstände im Raum und entschied sich für einen stabilen Holzstab, der vielleicht einmal dazu gedient hatte, eine Dachluke aufzustemmen. Das glatte Holz fühlte sich beruhigend hart an. Sie wog den Stock prüfend in der Hand, dann drehte sie sich zu der Treppe um, die sich in sanftem Bogen in den nächsten Stock erhob, und huschte lautlos hinauf.
     
    *
     
    Irgendwo jenseits des Tores diskutierte Tanijen mit Sabin. Inu ließ sich auf die Knie nieder. Zwischen den runden Kieselsteinen,

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