Die Sturmrufer
verblüfft, um sich rühren zu können. Der Wind wurde stärker, drohte sie von den Beinen zu holen. Der Mond war wieder hinter den Wolken hervorgekommen. Weiße Gischt malte an der Stelle, wo die Wesen eingetaucht waren, Zacken in die Wasseroberfläche.
Schwer atmend ging Amber in die Hocke. Ihr Rücken fühlte sich an, als hätte ihr jemand ein Stück brennendes Holz dagegengeschlagen. Sabin rief nach ihr, aber Amber war viel zu wütend, um zu reagieren. Wie ein Raubtier, dem die Beute entwischt war, saß sie nur da und trotzte dem Wind.
»Amber?« Das war Inus Stimme. Seine Besorgnis riss sie aus ihrer Erstarrung. Sie erinnerte sich daran, auf Sabin wütend gewesen zu sein, und dachte beschämt an ihr Versprechen. Andererseits: Der Triumph, die Wesen in die Flucht geschlagen zu haben, tat dennoch gut. Auf allen vieren kroch sie zum Dachrand zurück und hangelte sich mit geübten Griffen über die Dachkante und zurück zum Fensterbrett.
Drei blasse Gesichter starrten sie ungläubig an. Ihr wurde bewusst, dass ein Mensch, der im Dunkeln auf ein Dach klettern konnte, für einen Dantarianer einen seltsamen Anblick bieten musste. Doch sie hatte Ziegen und Schafe von weitaus gefährlicheren Bergvorsprüngen geholt. Und im Augenblick war sie stolz darauf, die anderen zu verblüffen. Selbst ihre Wut auf Sabin war verflogen.
»Jetzt wissen wir wenigstens ganz sicher, dass wir nicht allein sind«, sagte sie und schwang sich über das Fensterbrett in den Raum. »Wir müssen alle Fenster und Türen verschließen. Wir werden uns bewaffnen. Und gleich morgen gehen wir zum Schiff.«
»Was ist, wenn die Wesen uns am Strand angreifen?«, fragte Inu und deutete auf den Riss in ihrem blutgetränkten Ärmel. Es mochte eine Kralle gewesen sein, die ihr den Kratzer beigebracht hatte. Oder ein spitzer Eckzahn.
»Sie sehen offenbar im Dunkeln«, erwiderte Amber. »Vermutlich schlafen sie am Tag – sonst hätte ich das Tier heute Morgen nicht aufgeschreckt.«
Sie legte ihre ganze Bestimmtheit in diese Worte. Zum ersten Mal machte Sabin keine spöttische Bemerkung.
Die Burg
N och in der Nacht rückten sie die Möbel vor die Fenster des großen Saals und verriegelten die Türen zu den oberen Stockwerken. Der Wind hörte nicht auf, um das Gemäuer zu fauchen, und man konnte sich einbilden Krallen zu hören, die an den Türen kratzten. Doch Amber schien mit ihrer Vermutung recht zu haben, denn als sich in den Morgenstunden der Sturmwind endlich legte, senkte sich wieder die gespenstische Stille über die Insel. Außer den Vögeln, die nun in dichten Trauben auf dem Dach und im Hof kauerten, die Federn aufgeplustert und die spitzen Schnäbel zum Schlafen im Gefieder verborgen, war die Insel unbewohnt wie am Tag zuvor.
Dennoch sah sich Amber immer wieder nach der Wasserburg um, während sie mit Inu und Sabin zur Küste ging. Im Tageslicht konnte sie die beschädigte Stelle auf dem Dach des Turms sehen, an der sie gestern eingebrochen war. Und bei diesem Anblick wurde ihr flau im Magen. Es wäre ein tiefer, sehr endgültiger Sturz geworden.
»Meint ihr, dass Tanijen wirklich allein in der Burg bleiben soll?«, rief sie Richtung Sabin und Inu, die ihr schon weit vorausgeeilt waren. Inu winkte ihr ungeduldig zu. »Wir haben die Aufgaben verteilt. Er weiß, was er tut. Außerdem hat er die Tür zur Halle von innen verriegelt. Jetzt komm schon!«
Amber gehorchte widerwillig und holte auf. Im Gehen musterte sie die Bäume und schätzte sie bereits mit dem Blick des Holzfällers ab. Sie war aufgeregt, gestand sie sich ein. Mit Ställen und Hausdächern kannte sie sich aus – aber Schiffe?
Wenig später verging ihr die Laune. Das Schiff, das Sabin gefunden hatte, sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Andererseits – nach dem Schiffbruch, den sie erlebt hatte, würde wohl kein Schiff mehr sicher genug für Amber sein.
»Wir müssen nur ein kleineres Leck abdichten«, erklärte Sabin und deutete zum hinteren Teil der Timadar. Amber kniff die Augen zusammen und betrachtete misstrauisch das pockennarbige Holz. Seit der Wind sich gelegt hatte, brannte die Sommersonne unerbittlich auf die Insel und blendete sie. Das flaue Gefühl im Magen ließ die Tage auf dem Meer wieder lebendig werden. Im Gegensatz zum Ruderboot wirkte das kleine Schiff riesenhaft, und jetzt, bei Ebbe, lag es beinahe ganz auf dem Trockenen. Nur hinter dem Heck deutete die Dunkelheit des Wassers den Abgrund an.
»Und wie willst du es ins Meer bekommen?«, fragte
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