Die Sturmrufer
musste Amber noch tiefer in das Wasser waten. Die Wellen umspülten ihre Waden, sogen sich in die Hosenbeine und zerrten an ihr. Das Wasser wurde rasch tiefer, bis es Amber bis zur Hüfte einschloss. Der Rhythmus der Wellen brachte sie ins Schwanken und sie stützte sich an der rauen Bordwand ab. Das Leck lag genau am Abgrund. Mit klopfendem Herzen tastete sie Schritt für Schritt über scharfkantigen Fels, bis ihre Zehen die glatte Kante erfühlten. Die Schwärze der Schlucht machte sie beinahe schwindlig. Nur nicht an die Haie denken! Im Stillen zählte sie bis zehn, nahm ihren ganzen Mut zusammen und zog sich am Spalt in der Bordwand hoch. Dumpf pochte der Schmerz durch ihren Rücken. Einen Augenblick schwebte sie mit angespannten Muskeln über dem Schlund, nur durch ihre Hände gehalten, dann hatte sie es geschafft, sich über die untere Kante des Lecks hochzuwuchten. Sie war unendlich froh, Inus Hand ergreifen zu können, als sie auf das schräg stehende Deck kroch.
»Amber, was ist los? Du zitterst ja – und du bist blass – dein Rücken?«
Sie nickte. Ihre Kehle war zu trocken, als dass sie hätte antworten können. Vorsichtig richtete sie sich auf und blickte auf das Meer. Lockend und furchterregend zugleich lag es vor ihr. Sabin war noch nicht wieder aufgetaucht, aber unter der Wasseroberfläche glaubte Amber eine Bewegung zu erkennen. Noch einmal überdachte sie Sabins Worte, prüfte sie, wendete sie hin und her wie eine Frucht, von der sie noch nicht wusste, ob sie giftig war. Sabin hatte abgelehnt, ihr das Tauchen beizubringen. Aber sie hatte immerhin eingewilligt, ihr das Meer zu zeigen. Amber wusste nicht, welche Empfindung in diesem Augenblick stärker war: ihre Zweifel oder die Sehnsucht, ebenso wie Sabin Teil des Meeres zu sein.
*
Die Wasserburg war von innen größer, als sie von außen wirkte. Vom Balkon der Galerie aus betrachtet, sah der Tümpel mit seinem gefiederten Halsband nicht mehr ganz so bedrohlich aus. Tanijen wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und beugte sich wieder über die Truhe in einem der Räume, die auf die Galerie hinausgingen. Auch hier oben hatte der Wind seine Schätze aufgetürmt. Federn lagen in den Ecken, Kleidungsstücke verrotteten über Stühlen, Ranken betrachteten sich in halb blinden Spiegeln.
Und immer wieder: Papier. Verwittert, zum Teil verschmiert und in Fetzen gegangen. Ausgebleichte Reste einer Sammlung von Briefen vielleicht. Tanijen fühlte sich mehr denn je, als wäre er in ein fremdes Haus eingebrochen. Er hatte längst aufgehört zu zählen, wie viele Truhen er bei seiner verbissenen Suche nach Hinweisen geöffnet und durchwühlt hatte. Inus Worte ärgerten ihn immer noch. Umso schlimmer war, dass Inu ganz richtiglag: Tanijen hatte wirklich keine Ahnung, welche Insel das sein mochte. Unten in der Halle türmten sich bereits die Seekarten und andere Aufzeichnungen auf dem Tisch, aber immer noch war nichts Brauchbares darunter. Mehr als einmal fuhr er herum, weil er glaubte, dass jemand ihn beobachtete, aber es waren nur die Vögel. Sie hockten auf dem Geländer der Galerie und sahen ihm durch die Flügeltüren, die er geöffnet hatte, interessiert zu.
Doch das war nicht die Gegenwart, die Tanijen spürte. Etwas anderes bewegte sich in den Räumen, beobachtete ihn. Ganz deutlich nahm er es wahr: das leise Prickeln einer alten, halb verloschenen Magie, bereit, sich beim kleinsten Funken wieder zu entzünden. Heute Nacht schon hatte sie ihn berührt – in einem der wenigen Augenblicke, in denen er doch in einen flüchtigen Schlaf gefallen war, bevor ihn das Scharren wieder weckte.
In Tanijens Traum war die Wasserburg voller Menschen gewesen. Die Halle war nicht länger staubig, er sah Frauen und Männer am Tisch sitzen, vor sich Aufzeichnungen und Seekarten. Alle Inseln vor Dantars Küste waren darauf abgebildet. Feine Linien, mit Oktopustinte gezeichnet, zeigten die Windströmungen und das Wasser, das sich an manchen Stellen in entgegengesetzter Richtung in tückischen Wirbeln drehte. Auch eine Liste mit Schiffsnamen lag auf dem Tisch: Pallas, Uda, Mimora.
Nachdenklich betrachtete Tanijen ein abgegriffenes Notizbuch, das am Grund der Truhe lag. Der Boden war aufgequollen, als wäre Regenwasser in das Holz gedrungen; die Schrift auf dem Einband war verwischt und nur schwer zu entziffern. Immerhin reichte es, um sie zu erkennen. Es war die geschwungene, eilige Schrift eines jungen Menschen. Vielleicht war er ein Navigator gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher