Die Sturmrufer
von ihm am Fuß der Treppe und rieb sich ihren schmerzenden Arm.
»Eine schöne Gesellschaft seid ihr«, sagte sie verächtlich. »Ein Navigator, der keine Ahnung hat, wo wir sind, eine verrückte Taucherin, die sich aufführt wie eine eingebildete Feuernymphe, und ein Seiler, der nach ihrer Pfeife tanzt. Ich hoffe, Sabin erlaubt euch wenigstens zu atmen!«
Inu stellte wieder einmal fest, dass mit einer Amber, die auf festem Boden stand, nicht zu spaßen war. Fast erwartete er, sie würde zur Axt greifen, aber sie drehte sich nur um und stürmte Sabin hinterher.
»Ich hoffe nur, sie hat nicht vor, Sabin zu erwürgen«, meinte Tanijen. »Wer hätte gedacht, dass sie nicht nur eigensinnig, sondern auch abergläubisch ist?«
»Sie hat recht«, fuhr Inu ihn an. »Was für ein erbärmlicher Navigator bist du eigentlich, wenn du nicht einmal den Standort einer Insel bestimmen kannst?«
*
Sabin wandte nicht einmal den Kopf zur Tür, als Amber in das Turmzimmer stürmte. Ihr Schritt hallte im Raum, Staubschleier verhüllten das Mondlicht. Die Taucherin hatte die Fensterläden aufgestoßen und saß mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrett. Der Nachtwind zerzauste ihr Haar, Brandung donnerte unter ihr. Ihre Fischhautkleidung glänzte im blassen Licht.
»Was willst du?«
»Einige Dinge klarstellen«, antwortete Amber und atmete tief durch. »Warum führst du dich so auf, als würde meine Gegenwart dich beleidigen?«
»Tue ich das?«, sagte Sabin gleichgültig. »Es hat dich keiner gezwungen, mit uns aufs Meer zu fahren.«
Amber kämpfte den Impuls nieder, eine hölzerne Käfigstrebe zu packen und der Taucherin diese stechende, kalte Arroganz aus dem Gesicht zu schlagen. Sie zählte bis fünf, bevor sie antwortete.
»Irrtum. Ihr habt mich gebeten !«, gab sie mühsam beherrscht zurück. »Wenn ich es mir hätte aussuchen können, wärst du der letzte Mensch, mit dem ich allein sein wollte. Aber wir sind nun mal hier und niemand kann etwas dafür. Also erklär mir endlich, was du verdammt noch mal gegen mich hast! Habe ich dir was getan?«
Endlich hatte sie es geschafft, die Taucherin wenigstens ein wenig aus der Fassung zu bringen. Sabin blinzelte ein paarmal zu oft und sah sie an – endlich. Und dann überraschte sie Amber.
»Nein«, sagte sie freimütig. »Du hast mir nichts getan. Du erinnerst mich an jemanden, das ist alles. Und ich wünschte, du wärst nicht hier. Es ist so schon schwer genug.«
»Schwer?«, empörte sich Amber. »Du magst dich mit Harpunen auskennen, aber ich kann mit Holz und Zimmermannswerkzeug umgehen. Wie kannst du da behaupten, es wäre schwer mit mir?«
Für einen Augenblick wirkte Sabin verunsichert, und Amber glaubte in den blauen Augen eine Regung wahrzunehmen – Angst vielleicht oder einen flüchtigen Schmerz. Ambers Hände entspannten sich. In diesem Moment hätte sie alles dafür gegeben, um einfach mit der Taucherin sprechen zu können wie mit Inu.
»Wie du meinst«, sagte Sabin schließlich. »Lässt du mich jetzt bitte allein?«
Amber räusperte sich. Es war mühsam, mit Worten statt mit Fäusten zu kämpfen. »Nein. Ich… wollte dir noch sagen, dass die Erde nicht nur ›Matsch‹ ist, auch wenn ihr Fischhäute das denkt. Es gibt auch andere Götter als die des Meeres. Eure Toten sind bei ihnen nicht schlechter aufgehoben als im Wasser.«
»Ach, wirklich?«
Nun gab Sabin sich keine Mühe mehr, ihre Feindseligkeit zu verbergen.
Amber nickte. »Ich kenne die Geschichte, dass alle Einwohner Dantars von den Walen abstammen und ihre Seelen nach ihrem Tod ins Meer zurückkehren. Ich habe diese Geschichte immer gemocht – sie gefiel mir weitaus besser als unsere Sagen vom Martiskönig und der Erschaffung des Feuers. Aber es gibt eine Geschichte, die ebenso schön ist wie die über Dantars Wale. Und ebenso wahr.«
»Ganz recht«, sagte Sabin kühl. »Wir stammen von den Walen ab. Und ihr? Von den Ziegen?«
In diesem Augenblick lernte Amber etwas über sich selbst: Sie war keine Dantarianerin. Und wenn es nach der Wut ging, die sie nun überschwemmte wie eine heißkalte Woge, würde sie nie eine werden. Ihre Fäuste hatten sich ganz von selbst geballt, ihre Beine schnellten los.
Sabins Augen weiteten sich vor Schreck, mit einem flinken Satz sprang sie vom Fensterbrett und wollte fliehen. In dieser gläsernen Sekunde, als Amber ihr mit erhobener Faust entgegenstürzte und die Taucherin versuchte sich unter dem Hieb zu ducken, sah Amber plötzlich etwas, was ihre
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