Die Sturmrufer
befand sich mit einem Mal mitten in einer Wolke aus blitzenden Körpern. Schuppen glitten an ihrem Bein entlang. Sie bewegte die Arme und der Fischschwarm – diese schnellen Fische mit den flügelartigen Flossen –, löste sich auf. Die Fische stoben in alle Richtungen davon, formierten sich wieder zu einem silberblitzendem Strom und verschwanden in der nachtdunklen Tiefe unter ihr. Ein Wasserwirbel ergriff sie wie eine gewaltige Wasserhand und drehte sie um ihre eigene Achse.
Was wollte der Naj ihr damit zeigen? Das Blut begann in ihren Schläfen zu pochen, sie musste auftauchen! Mit zwei kräftigen Beinschlägen hatte sie sich aus der Strömung befreit und blickte dem Schwarm nach. Unbewusst streckte sie nach alter Gewohnheit die Hand aus.
Und Satu ergriff sie.
Für einen Augenblick wollte sie es glauben – die flüchtige Berührung ihrer Hände, das Zeichen zum Auftauchen. Ihre Sehnsucht spielte ihr wieder einen Streich. Doch die Berührung verschwand nicht. Sabin fuhr herum und blickte in das Gesicht ihres Bruders. Einen Augenblick setzte ihr Herzschlag aus.
Satus langes, helles Haar, das dem ihren so ähnlich war, umschwebte sein Gesicht. Er lächelte. Sabins Augen brannten, ihre Brille beschlug von innen und hüllte Satus Bild in einen Nebel. Mit aller Kraft klammerte sie sich an seine Hand. Die Luft wurde knapp, aber sie dachte gar nicht daran aufzutauchen. Sie blinzelte und… sah den Naj, bedrohlich nahe. Mit einem Schrei, der sie in einen Mantel aus Luftbläschen hüllte, prallte sie zurück. Wie auf einen unsichtbaren Befehl schossen plötzlich die Fische aus der Tiefe empor und an ihr vorbei, wirbelten um sie herum und nahmen ihr die Sicht. Sabin stieß mit der Harpune in den Schwarm und die Fische gaben ihr wieder die Sicht frei. Ein Sog ergriff sie und ließ ihr keine Möglichkeit zu reagieren. Als sie wieder wusste, wo oben und unten war, war der Schwarm verschwunden. Und auch der Naj war nirgends zu sehen.
Sabin nahm ihre Kräfte zusammen und schwamm. Das Blut dröhnte in ihren Ohren, die Brust schmerzte. Der Sog wollte sie ins Meer zurückziehen, aber sie tauchte unter der Strömung hindurch, die Beine unbehaglich kribbelnd in der Erwartung, dass der Naj zurückkehrte und sie doch ertränkte. Mit einem gurgelnden Schrei tauchte sie auf und schnappte nach Luft.
Sie warf sich in die Fluten und schwamm.
Der Sog war verschwunden, stattdessen schien das Meer sie nun vor sich her zu tragen. Inu und die Bergländerin standen am Strand neben der Timadar und starrten ihr entgegen. Sie schlug sich ein Knie an einem Felsen blutig, stolperte weiter, rannte an Land und warf die Harpune in den Sand. Sie ließ sich auf den Knien nieder und atmete, atmete einfach, während ihre Zähne immer noch vor Entsetzen klapperten.
Dann war Inu bei ihr und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Was ist passiert?«, fragte er sanft.
»Satu«, flüsterte sie. »Ich habe Satu gesehen. Satu… er war da draußen!«
Inu runzelte besorgt die Stirn. »Satu ist tot«, sagte er leise.
»Ach wirklich?«, schrie sie. »Ich habe seinen Leichnam nie gesehen, du etwa?«
»Weil er in den Bergen begraben wurde, Sabin. Aber er ist tot. Du weißt es.«
Sabin presste die Lippen zusammen und riss sich die Maske von den Augen. Ein leichter Wind kühlte die Tränen auf ihren Wangen. Am liebsten hätte sie selbst geglaubt, was sie eben im Wasser gesehen hatte. Doch Inus mitleidige Miene holte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück.
Das Landmädchen stand einige Schritte von ihnen entfernt und betrachtete die Szene mit blassem Gesicht. Heute konnte Sabin ihren Anblick weniger denn je ertragen. »Was starrst du mich so an, Landkröte?«
Amber schluckte, doch sie antwortete nicht. Verlegen blickte sie weg, als Sabin sich die Tränen vom Gesicht wischte.
Sabins Blick fiel auf die Harpune. An der Spitze zuckte einer der fremdartigen Fische, die sich gerne im Sog mitziehen ließen und die sie noch nie hatte erbeuten können. Schlaff hingen die Flossen nach unten. Sie griff nach der Harpune und riss den Fisch von der Spitze. Fischblut tropfte von ihrer Hand. An der Stichstelle standen die Schuppen in einem seltsamen Winkel vom Körper ab.
»Gib mir dein Muschelmesser, Inu!«
Der Seiler zuckte zusammen. »Welches Messer?«
»Na das unter deinem Tuch!«
»Hier!« Amber sprang herbei und reichte ihr ein Messer mit einem Griff aus Martiszahn und gerader Klinge. Sabin nahm es nach kurzem Zögern an sich, schnitt unter die Schuppen und
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