Die Sturmrufer
wir hier gestrandet. Hast du… kennst du diese Insel? Wo liegt sie? Hier ist nichts so, wie es sein sollte: Aale schlüpfen aus Bäumen. Die Vögel bringen Wind, doch sie fliegen nur selten, als würden sie auf etwas warten. Auf der Insel müssten Spuren von Menschen sein – zumindest Gräber, aber wir sind allein. Was ist mit den Menschen passiert?«
Der Naj zischte und fächelte sich mit einer nachlässigen Geste Wasser mit seiner Hand zu. Sein schuppiger, mit einer Fleckenzeichnung geschmückter Arm schimmerte im Nebel.
»Warum sollte ich dir auch nur eine Antwort geben?«, fragte er in der rauschenden, singenden Najsprache. »Du wirst bald selbst tot sein. Dann wirst du es wissen.«
Sabin fror plötzlich im Wasser.
»Tot?«, flüsterte sie. »Sie wurden also getötet? Von… wem?«
»Von menschlicher Dummheit«, sagte der Naj und betrachtete seine Finger, bewegte sie und ließ die Schwimmhäute schimmern.
»Waren sie… Magier?«
»Magie nennt ihr das?«, sagte der Naj verächtlich. »Ich nenne es Menschenspiele für Landkriecher wie dich.«
Sabin kniff die Lippen zusammen und verbiss sich eine scharfe Antwort. Einen Naj zu beleidigen war kein guter Gedanke.
»Schön«, meinte sie. »Dann gib mir wenigstens einen Hinweis. Was geht hier vor? Bitte, sag es mir!«
So weit war es mit ihr gekommen – sie bettelte einen Naj an!
»Bist du wirklich so dumm oder tust du nur so?«, sagte der Naj und gab ein schnalzendes, glucksendes Geräusch von sich. In der Najsprache war das ein Lachen. Vermutlich ein herablassendes. »Es gibt einen Grund, warum ihr Menschen nie die Hüter von unsterblichen Dingen sein solltet. Euer Gedächtnis ist zu kurz, eure Gier maßlos. Ihr sterbt und lasst uns mit dem zurück, was ihr angerichtet habt. Stein passt nicht auf Muschel – und Feder nicht auf Tropfen.«
»Was?«, rief Sabin verzweifelt. »Was bedeu…«
Er schnellte so plötzlich nach vorne, dass Sabin nicht einmal ihre Harpune hochreißen konnte. Was ohnehin nicht viel genützt hätte. Muränenstarke Arme ergriffen sie und zogen sie so schnell in die Tiefe, dass der Druck in ihren Ohren schmerzhaft anschwoll.
Insgeheim verfluchte sie ihren Leichtsinn. Wie dumm war sie, einen Naj zu belästigen? Diese Insel hatte ihr jeglichen Verstand geraubt!
Schleier aus Häuten umwallten sie. Luftblasen sprudelten daraus hervor und glitten über ihre Haut. Blitzartig berechnete sie die Zeit, die ihr noch blieb, bevor ihr die Luft ausgehen würde. Jetzt verlor die Vernunft und Sabin stemmte sich mit aller Kraft gegen den Griff des Naj. Mit all den Hautschleiern, die ihn umwallten, war er viel größer als sie. Zum ersten Mal hatte sie im Wasser mehr Angst als an Land. Was hatte er vor?
Der Widerstand wich so plötzlich, dass sie durch das Wasser trudelte. Der Naj hatte sie von sich gestoßen. Anmutig bewegte er sich in seinem eigentlichen Element. Auge in Auge trieben sie im Wasser einander genau gegenüber. Der Sog einer leichten Strömung hielt Sabin in der Schwebe. Eine Weile sahen sie sich nur an. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag. Er wollte sie nicht töten, zumindest nicht jetzt. Stattdessen betrachtete er sie ebenso interessiert wie sie ihn. Sabin konnte gar nicht anders, als fasziniert zu sein. Nicht viele Taucher kamen in ihrem Leben dazu, einem Naj unter Wasser so nahe zu kommen. Er wirkte majestätisch, die Hautschleier umgaben ihn wie ein prächtiger Mantel. Unter Wasser war sogar das fremdartige Gesicht mit den silbrigen Augen von eigentümlicher Schönheit. Sie entdeckte eine Zeichnung auf seiner Stirn, die wie ein Perlenband wirkte, und staunte. War ihr eine solche Zeichnung bei den Naj vor Dantar bisher nur noch nie aufgefallen? Oder unterschieden sich Naj in ihrem Aussehen vielleicht doch voneinander wie Menschen? Aber nein, sie hatte gelernt, dass sie wie Fische waren – identisch und ohne eigene Züge. Während sie ihn fasziniert musterte, geschah etwas Seltsames: Die Angst wich endgültig einem anderen Gefühl, dem kurzen Aufblitzen des Glücks, zu schweben. Und einen weiteren Moment lang wünschte sie sich so brennend wie nie zuvor, ein Naj zu sein, ein Geschöpf der Ewigkeit, das keinen Schmerz und keine Trauer empfand.
Zu ihrer Überraschung legte der Naj den Kopf schief, als hätte er ihre Gedanken gehört, und betrachtete sie aufmerksam. Er sagte einen Satz, den sie unter Wasser nicht verstand, und versetzte ihr einen überraschend sanften Stoß. Sabin trudelte um ihre eigene Achse. Und
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