Die Suche nach dem Drachenring (German Edition)
nicht allein waren, seine Nackenhaare stellten sich auf. Leo sah ihn an. „Was ist los?"
„Ich weiß nicht, irgendwas stimmt nicht." Dann durchfuhr es Phil eiskalt. Zwischen den Tannen wuchsen gigantische Spinnennetze – so schnell, als würde jemand gewebte Vorhänge herunterlassen. Große Schatten huschten über die schimmernden Fäden.
„Lauf!" Phil stürzte auf die nächstbeste Baumlücke zu, Leo hinterher. Das Netz reichte schon fast bis auf den Boden. Im letzten Moment hechteten sie unter den klebrigen Fäden hindurch und rannten auf die Trauerweiden zu.
Schon von Weitem vernahm Phil ein merkwürdiges Zischen. Vorsichtshalber blieb er stehen. Zunächst glaubte er, seine Fantasie würde ihm einen Streich spielen, doch er irrte sich nicht. Die Trauerweiden bestanden aus Hunderten von schwarzen Schlangen, die sich ihnen züngelnd entgegenstreckten. Angewidert schlug Phil eine andere Richtung ein. Ein Stückchen von den Trauerweiden entfernt wuchs ein Baum, der einem aufgespießten violetten Tintenfisch ähnelte, dahinter lag der Weg. Phil überlegte nicht lange und steuerte darauf zu. Im nächsten Augenblick schwebte er kopfüber in der Luft, gefesselt von einem violetten Fangarm. Dieser Fangarm führte ihn zu einem Schlund an der Spitze des Baumes, der sich langsam öffnete. Neben ihm baumelte Leo, der so etwas wie „Hilfe" hervorwürgte.
Phil griff nach dem Taschenmesser, das er zum Glück nicht verloren hatte. Irgendwie gelang es ihm, es auseinanderzuklappen, und er stach zu. Der Fangarm zuckte, ließ ihn jedoch nicht los. Phil stach erneut zu. Immer wieder stieß er das Messer in das feste Fleisch. Aus jeder Wunde quoll hellgrüner Schleim. Irgendwann gab der Fangarm nach. Phil stürzte auf den harten Sandweg und verlor das Bewusstsein.
Leos Schreie ließen ihn wieder zu sich kommen. Er rappelte sich auf und taumelte auf den Baum zu. Mehrere Fangarme peitschten durch die Luft. Phil hielt noch immer das verschmierte Messer in der Hand. Er sah nur eine Möglichkeit, Leo zu retten – er musste damit den Schlund treffen. Durch sein jahrelanges Basketballtraining konnte Phil sehr gut zielen, aber er hatte noch nie ein Messer geworfen. Der Schlund des Baumes hatte sich beinahe bis auf die Breite von Leos Schultern ausgedehnt, Leos Haarspitzen berührten bereits den Rand. Phil warf. Das Messer verschwand in der pulsierenden, schleimigen Röhre, genau wie Leos Kopf. Seine Hilferufe klangen dumpf.
„Die Nadeln!", schrie Phil. „Nimm die Stricknadeln!" Mit schlotternden Händen wühlte Leo in seinen Hosentaschen. Endlich blinkte etwas zwischen seinen Fingern und Leo begann, wild um sich zu stechen. „In den Schlund, in den Schlund!", brüllte Phil. Wenn Leo jetzt den Fangarm verletzte, war er verloren. Wie von Sinnen rammte Leo die Nadeln in die Röhre.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bog sich der Baum ächzend nach vorn. Die Fangarme erschlafften und Leo fiel auf den Boden. Mit letzter Kraft rollte er sich zur Seite und übergab sich. Hinterher wischte er mit zitternden Händen die Stricknadeln am Hosenbein ab. „Ohne die wäre ich jetzt nicht mehr."
„Ich glaube, ich muss meine Meinung über das Stricken ändern." Phil bemühte sich um ein fröhliches Grinsen, obwohl ihm nicht danach zumute war.
Leo musste seine abgeschnürten Füße massieren, bevor er weiterlaufen konnte. Dann hatte er es allerdings sehr eilig, an den Trauerweiden vorbei zu kommen. Die Schlangen reckten sich ihnen erneut entgegen.
„Ob die irgendwann reif sind und abfallen?", flüsterte Leo schaudernd.
„Dann möchte ich weit weg sein", antwortete Phil. Hinter den Stechpalmen bildeten grüne Tannen eine undurchdringliche Mauer. Es herrschte eine unheimliche Stille, was Leo auf das Fehlen der Glockenblumen zurückführte. Sie selbst sprachen kaum, jeder bewachte eine Seite des Weges. Plötzlich brach zwischen den Bäumen ein großer schwarzer Kopf mit langen Fühlern hervor, ein schlanker, gegliederter Körper mit sechs Beinen folgte.
Phil hielt Leo fest. „Eine Riesenameise. Wenn die uns mit ihrer Säure bespritzt, bleibt von uns nichts übrig."
„Ich finde Ameisen ätzend!" Leo wich zurück.
Die Ameise zog eine Zecke hinter sich her. Vor Leo blieb sie stehen und musterte ihn mit ihren mosaikartigen, dunklen Augen. „Ich kann noch ganz gut alleine laufen", sagte Leo unsicher. Daraufhin tastete ihr Blick Phil ab, ehe sie sich wieder der Zecke widmete.
„Ob die uns auch wegschleppt, wenn uns was passiert?"
„Bestimmt.
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