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Die Suche nach dem Regenbogen

Titel: Die Suche nach dem Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Blaß, verstört, aber entschlossen, nahm sie ihre Laute mit an sein Krankenlager. Bei ihrem Anblick, so demütig, so gewillt, ihn zu bezaubern, leuchtete es in den eingesunkenen Augen auf, und der Anflug eines wölfischen Lächelns zuckte um die fahlen Lippen. Ich bin doch noch nicht zu alt, um dieses kleine Füllen zu zähmen, dachte er.
    »Spielt mir Musik aus England«, sagte er. »Ich möchte heute aufgeheitert werden.« Zuerst spielte sie eine Weise für ihn, dann sang sie mit ihrer hellen Mädchenstimme. Bezaubernd, dachte der König. Sie spielte stundenlang. Italienische Pavanen, englische Balladen, spanische Weisen. Zuweilen lauschte der König, in die Kissen zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen. Dann setzte er sich mit einem Ruck auf und bemühte sich, die Anzeichen seiner zunehmenden Schwäche zu verbergen. Sie gab ihm ein Rätsel auf. Er lachte. Hinreißend, dachte er.
    »Sire«, sagte sie so liebreich, daß er meinte, sie würde um ein belangloses Spielzeug bitten, »wollt Ihr mir eine Gunst gewähren?« Er nickte gütig. »Von all meinen Dienern ist meine liebe alte Mutter Guildford meine Beraterin seit Kinderzeiten, könntet Ihr sie nicht verscho…« Auf einmal blickte das Mädchen in ein Paar harte schwarze Steine, eingelassen in einen furchterregenden Schädel, über dem sich die pergamentartige Haut eines alten Mannes spannte.
    »Ich dulde es nicht, daß der Name dieser Frau in meiner Gegenwart noch einmal erwähnt wird«, sagte der König von Frankreich.
    Erschrocken verstummte die Königin. Sie konnte ihr Herz hämmern hören, und ihre Hände wurden klamm, während es sie eiskalt durchzuckte: Sie war nicht länger die verhätschelte Prinzessin, der die schrecklichen Gefahren des Hoflebens nichts anhaben konnten. Dieser Mann würde mit ihr machen, was er wollte. Doch trotz aller Angst verspürte sie eine unbändige Wut. Tudor-Wut – ungestüm, leidenschaftlich. Wer war dieser alte Mann, daß er sich einbildete, er dürfte ihr die Jugend und Lebensfreude nehmen? Er glich einem Geschöpf aus dem Grab, das den Lebenden das Blut aussaugen mußte, um sich sein unnatürliches Leben zu erhalten.
    »Ihr werdet bald gelernt haben, ohne sie auszukommen«, sagte der König. »Außerdem solltet Ihr Euch bemühen, mir in allen Dingen zu gefallen.«
    »Mein Herr und König, ich habe keinen anderen Wunsch«, sagte sie und beugte den Kopf. Bis zu diesem Tag hatte sie nur den König in all seiner Pracht, seiner Würde und seinem Reichtum gesehen. Nun sah sie den Menschen, und das klar und unverstellt. Ihm fehlen schon Zähne, dachte sie, und Mundgeruch hat er auch. Seine Haut ist alt und voller Eiterpusteln. Sein Körper ist faulig und abstoßend. Man hat mich betrogen. Man hat mich verkauft. Und das hat mein eigener Bruder getan. Nein, der schickt Mutter Guildford nicht zurück. Er hat mit hohem Einsatz gespielt, aber ich bezahle die Rechnung. Man wird mich hier in Frankreich vernichten. Und zum ersten Mal in ihrem kurzen, verwöhnten Leben hatte die mädchenhafte Königin wirklich Angst.

    Zwei Tage später brach ein prächtiger Zug von Abbeville in Richtung Paris auf. Hunderte von französischen Soldaten bildeten die Vorhut, dazu berittene Leibwachen und Edelleute auf schweren Rössern, die mit Gold und Samt herausgeputzt waren. In ihrer Mitte wurde der König von Frankreich in einer Pferdesänfte von zwei schwarzen Stuten getragen, und die Königin von Frankreich hielt sich hoch zu Roß an seiner Seite. Hinter ihr ritten die wenigen Engländer, die noch zu ihrem Gefolge gehörten, ihr Almosenpfleger, ihr Arzt, ihr Stallmeister und ein halbes Dutzend Edeldamen. Es folgten ihre reich vergoldeten Wagen mit dem Brautsilber, die sich durch den aufgewühlten Morast quälten. Französische Stalljungen, die auf überzähligen schweren Pferden hockten, führten den langen Zug ihrer weißen Zelter an. Und dahinter, im Troß der Packesel, waren noch einige wenige der niederen Aufseher, Beamten und Stallknechte im Heer der französischen Bediensteten zu finden, das dem König überallhin folgte. Ehrfürchtig zogen die Bauern den Hut und warfen sich im Schlamm auf die Knie, wenn der Zug an winterlichen Gehöften und Dörfchen vorbeikam. Dergleichen würden sie ihrer Lebtage nie wieder zu sehen bekommen: der König von Frankreich und seine schöne englische Prinzessin auf dem Weg nach St. Denis zu ihrer Krönung.
    Und an ebendiesem Tag brach in Abbeville eine lange, weit auseinandergezogene Schlange von Engländern in

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