Die Suche
hingen. Andreas lag schlafend auf dem Rücken. Sein Gesicht war blass. Ich musste schlucken.
„Er hat ein Schmerzmittel bekommen“, erklärte Dr. Wyznowski. Sam war längst aufgestanden und setzte sich nun zu seinem Vater. Er streichelte über die Hand und mein schlechtes Gewissen besserte sich nicht.
„Wir müssen ihn für heute Nacht zur Beobachtung hier lassen. Wann geht Ihr Flug zurück nach Deutschland?“, fragte der Arzt. Sam hob die Schultern.
„Wir bleiben so lange, bis es ihm besser geht und wir ihn transportieren können.“
Ich schaute auf meine Finger. Mir war schlecht. War Andreas einfach Opfer eines normalen Überfalls geworden, oder hatte ich etwas damit zu tun? Letzteres ließ mich nicht mehr los und der Knoten in meinem Magen zog sich zu.
„Noch etwas: Die Polizei wird morgen mit Ihrem Vater und vielleicht auch mit Ihnen sprechen wollen. Ich konnte sie vorhin unten abfangen und ihnen versichern, dass Herr Koch Ruhe braucht.“ Damit zwinkerte er mir verschwörerisch zu und ein leichtes Zucken umspielte seine Mundwinkel. Deshalb war er so mürrisch an uns vorbei gelaufen. Fast hätte ich gelächelt, wäre die Situation nicht so schrecklich. Jo rührte sich, kam aus seiner Ecke hervor und trat auf mich zu. Er hatte sich verändert im Gegensatz zu früher. Vom naiven Jüngling, war er zu einem mitfühlenden Mann gereift. Jetzt wollte ich noch dringender wissen, wie er und Adam sich kennengelernt hatten. Ich hoffte, wir würden die Zeit finden, um uns auszutauschen.
Jo sah über mich hinweg zu Sam.
„Wo schlaft ihr?“, fragte er.
„Ich vermute, Dad hat die Jä… Bekannte hier in London“, verbesserte er sich schnell, denn der Arzt und der Pfleger waren immer noch anwesend. Während er noch einige Untersuchungen an Andreas vornahm, räusperte sich nun der Arzt.
„Wenn Sie keine Fragen mehr haben, schlage ich vor, Sie fahren zu Ihrem Hotel, damit sich Ihr Vater ausruhen kann. Sie dürfen gerne morgen wieder kommen.“ Wartend stand er im Zimmer, so als ob er sichergehen wollte, dass wir auch tatsächlich gehen würden. Ich erhob mich, umrundete das Bett und zog sanft an Sams Arm, den er gerade eben wieder in sein Hemd geschoben hatte. Er knopfte es zu und blickte zu mir auf.
„Sam. Deinem Dad geht es gut. Er ist hier in Sicherheit, okay“, raunte ich ihm zu. Der Pfleger war nun fertig, schnippte noch einmal kurz am dünnen Schlauch des Tropfs und stellte sicher, dass die Flüssigkeit ungehindert durch die Butterflyspritze in Andreas' Vene lief. Er lächelte mir zu. Hübscher Kerl. Raspelkurze, schwarze Haare, die ihm wie Stacheln vom Kopf abstanden und smaragdgrüne Augen, die von dichten Wimpern eingerahmt wurden. Er war etwas schlaksig, strahlte aber Kraft und ein Selbstbewusstsein aus, das mir imponierte. Und in diesem Augenblick spürte ich, dass er mich überhaupt nicht interessierte. Überrascht starrte ich ihn an. In den vergangenen 400 Jahren war mir das noch nicht passiert. Ich hatte öfter davon gehört, es nie geglaubt, dass ich jemals betroffen wäre. Angst durchlief mich. Das durfte nicht sein! Ich durfte mich nicht ernsthaft in Sam verliebt haben.
16. Kapitel
RMS Carpathia, 15.04.1912
« Nun, du bist ein Werwolf. Sag du es mir. »
Die Welt und ihr Gott
Durch alle Generationen hat Philosophie sich mit zwei Fragen beschäftigt: Wie sind Menschen zu dem geworden, was sie nun sind? Und wie sind ihre sozialen Bedingungen so geworden? Dies sind nicht wirklich zwei Fragen, aber in einer findet sich die unmittelbare Erklärung der menschlichen Natur.
Adam tippte immer und immer wieder diese Worte auf auf die Tasten seiner Reiseschreibmaschine, zog das Papier aus der Maschine, zerknüllte es, warf es auf den Boden und fing erneut an. Setzte die Worte anders zusammen, stellte den Satz um, seufzte genervt. Seit er in die Rolle des Philip Mauro geschlüpft war, hatte er sich auch überlegt, was er für ein Mensch sein wollte. Nach den letzten Jahrhunderten voller wechselnder Partner, ohne nähere Bindung zu einem Mann, führte er nun ein Leben als Philosoph, Schriftsteller und Fotograf; ohne festen Partner. An Bord der Carpathia unternahm er seine erste Reise auf einem Schiff. Die Idee hatte er kurzfristig umgesetzt. Vier Tage waren sie nun schon auf dem Meer. Jeden Abend aß Adam in dem Speisesaal, beobachtete die Menschen, unterhielt sich auch mit einigen wenigen, aber er blieb zurückhaltend. In seine Kajüte begab er sich
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