Die Sünde der Brüder
sprach seine Worte mit äußerstem Bedacht aus. Grey drückte seine Finger, um ihm zu zeigen, dass er dies zu schätzen wusste.
»Nein, er konnte sie nicht fallen gelassen haben. Er lag mindestens sieben Meter davon entfernt, und dazwischen standen eine Bank und mehrere große Kübelpflanzen.«
Er hatte sofort gewusst, dass es sein Vater war. Der Herzog trug seine alte Lieblingsjacke, ein schäbiges Stück aus karierter Wolle, das nur noch für das Haus gut war.
»Ich wusste auf den ersten Blick, dass er tot war«, sagte er und starrte in die weiße Leere über seinem Kopf. »Aber ich bin zu ihm gerannt.«
Es war unmöglich, seine Gefühle zu beschreiben, weil er nichts empfunden hatte. Die Welt war in diesem Moment einfach geendet und mit ihr sein gesamtes Wissen darum, wie man sich verhielt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das Leben weitergehen sollte. Die erste Lektion seines Lebens als Erwachsener war, dass es dies grauenhafterweise aber tat.
»Man hatte ihm ins Herz geschossen, obwohl ich das nicht sehen konnte, nur das Blut unter ihm auf dem Boden. Aber sein Gesicht war unversehrt.« Seine Stimme erschien ihm weit entfernt. »Ich hatte keine Zeit, mich weiter umzusehen. Genau in dieser Sekunde hat sich die Tür zum Haus geöffnet.«
Purer Instinkt war es gewesen, der ihn zurück hinter die Akazien getrieben hatte. Dort war er hocken geblieben, erstarrt wie die Kaninchen, die er in der Nacht gejagt hatte.
»Es war meine Mutter«, sagte er.
Sie war noch im Morgenrock gewesen, und das Haar hatte ihr in einem dicken Zopf über die Schulter gehangen. Er hatte gesehen, wie die ersten Lichtstrahlen durch die Glasscheiben an der Decke auf sie fielen, ihren dunkelblonden Zopf aufleuchten ließen und ihm ihr argwöhnisches Gesicht zeigten.
»Gerry?«, hatte sie mit leiser Stimme gesagt.
Genau in diesem Moment hatte sich das Kaninchenbaby in Johns Hemd bewegt, geweckt durch seine Reglosigkeit. Er war zu erschrocken gewesen, um irgendetwas dagegen zu unternehmen, zu verängstigt, um die Herzogin zu rufen.
Sie sah sich um und rief noch einmal: »Gerry?« Dann sah sie ihn, und die schwache Farbe, die ihr das zunehmende Licht verliehen hatte, verschwand in Sekundenschnelle.
»Sie ist natürlich zu ihm gegangen - ist an seiner Seite auf die Knie gefallen, hat ihn berührt, seinen Namen gerufen - aber in einer Art verzweifeltem Flüsterton.«
»Sie hatte damit gerechnet, ihn dort zu finden«, sagte Percy gebannt. »Und sie war erschrocken, ihn tot zu finden - aber … vielleicht dennoch nicht überrascht?«
»Das ist sehr scharfsinnig von dir.« Grey rieb sich über die Rippen, denn in der Erinnerung spürte er die scharfen Kaninchenkrallen, ein Schmerz, den er damals ignoriert hatte. »Nein. Sie war nicht überrascht. Ich war es.«
Die Herzogin hatte einige Sekunden über der Leiche ihres Mannes gehockt und sich vor Schmerz lautlos hin und her gewiegt. Dann hatte sie sich aufgerichtet und die Arme um sich selbst geschlungen, das weiße Gesicht wie eine Maske aus Stein, tränenlos.
Das Kaninchen kratzte ihm den Bauch blutig, und er biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzuzischen. Mit hektischen, lautlosen Bewegungen zog er sich den Hemdschoß aus der Hose, und das Tierchen purzelte auf den Steinboden
des Wintergartens, wo es einen Moment erstarrt hocken blieb. Dann schoss es zwischen den Akazien hervor zur Tür.
Die plötzliche Bewegung ließ die Herzogin zusammenfahren, und sie schlug sich die Hand vor den Mund. Dann sah sie das zitternde Kaninchen in einem kleinen Kegel aus Morgenlicht, und ihre Schultern bebten.
»Oh, Gott«, sagte sie immer noch leise. »Oh, lieber Gott.«
Dann stand sie in ihrem blutdurchtränkten Morgenmantel auf und durchquerte den Wintergarten. Ohne dem Kaninchen zu nahe zu kommen, schob sie mit ausgestrecktem Arm die Tür auf, dann trat sie zurück und sah anscheinend zutiefst gebannt zu, wie das Kaninchen noch eine lange Sekunde mit zuckendem Näschen sitzen blieb, bevor es in die Freiheit hinausschoss.
»In diesem Moment wäre ich fast aus meinem Versteck gekommen«, sagte Grey und holte tief Luft. »Aber genau da hat sie die Pistole gesehen. Ich hatte nicht gewusst, dass es eine Waffe war - nur, dass ich mit dem Fuß gegen etwas gestoßen war -, doch als sie sie aufgehoben hat, konnte ich sehen, dass es eine Pistole war. Eine Duellierpistole; sie gehörte meinem Vater. Er hatte zwei Stück davon, die speziell für ihn angefertigt worden waren -
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