Die Sünde der Brüder
entgegenstreckte und sich anmutig verneigte, um Percy danach schwanzwedelnd die Hand zu lecken.
Nichts an Rigbys Verhalten deutete darauf hin, dass er Grey erkannte. Grey hätte in dem Leiter des Hospitals den früheren Hauptmann Rigby wahrscheinlich selbst nicht erkannt. Er war Rigby zwar einige Male im Haus seiner Eltern begegnet, doch damals hatte Rigby stets seine Uniform getragen, und er hatte keine Aufmerksamkeit für einen zehnjährigen Jungen übriggehabt.
»Ich soll Euch Grüße von meiner Mutter ausrichten, Sir«, sagte er zu Rigby. »Der verwitweten Gräfin Melton?«
Rigby runzelte die Stirn, als könne er den Namen nirgendwo zuordnen, und Grey fügte rasch hinzu: »Ihr kanntet sie, glaube ich, als die Herzogin von Pardloe.«
Eine Sekunde lang verlor Rigby auf beinahe komische Weise jeden Ausdruck; dann fing er sich und fasste Grey bei der Hand.
»Mein werter Sir!«, rief er aus und schüttelte ihm die Hand.
»Ich bitte um Verzeihung! Ich hätte Euch sofort erkennen sollen - jetzt, da ich es weiß, seid Ihr Eurem Vater auffallend ähnlich … Aber unsere Bekanntschaft ist natürlich schon viele Jahre her … was für ein trauriger Verlust …« Der Doktor stotterte und errötete verlegen. »Ich meine … ich möchte Euch natürlich nicht daran erinnern … Wie geht es Eurer lieben Mutter?«
»Sehr gut«, sagte Grey lächelnd. »Obwohl sie inzwischen auch nicht mehr die Gräfin Melton ist. Sie ist seit gestern verheiratet, mit Sir George Stanley.«
Diese Neuigkeit schien Rigby aufrichtig zu erstaunen; entweder hatte er keine Ahnung gehabt, oder er war ein exzellenter Schauspieler.
»Ihr müsst ihr meine herzlichsten Glückwünsche ausrichten«, sagte er und drückte Grey herzlich die Hand. »Wisst Ihr eigentlich, dass ich selbst einmal um ihre Hand angehalten habe?«
»Wirklich?«
»Oh, ja.« Rigby lachte, und die Fältchen in seinem Gesicht verzogen sich, sodass jede Illusion von Würde schwand. »Sie hat mich klugerweise abgewiesen und gesagt, ich sei nicht für die Ehe geschaffen.«
Grey hustete.
»Äh … ich fürchte, meine Mutter ist manchmal …«
»Oh, sie hatte vollkommen Recht«, versicherte ihm der Doktor. »Sie hat lange vor mir ganz richtig festgestellt, dass ich der geborene Junggeselle bin und mir meine eigene Gesellschaft und meine Angewohnheiten viel zu lieb und teuer sind, als dass ich die für eine Ehe nötigen Kompromisse schließen würde. Doch vielleicht seid Ihr ja selbst verheiratet, Sir?«
Die Hitzewelle, die Grey bei dieser Frage ins Gesicht stieg, überrumpelte ihn völlig.
»Äh … nein, Sir. Leider nicht.« Er sah sich unauffällig nach Percy um, doch sein Stiefbruder war an eines der Fenster getreten, die auf das Gelände hinausblickten, und beobachtete irgendetwas, das draußen vor sich ging. »Genauso wenig wie
mein Stiefbruder«, fügte er hinzu und wies kopfnickend auf Percy. »General Stanleys Sohn, Per- Percival Wainwright.«
»Zeit genug, Sir, Zeit genug.« Rigby lächelte nachsichtig, dann wurde ihm bewusst, dass sich im Hintergrund ein Grüppchen von Damen herumdrückte, die darauf warteten, dass man sie Hercules vorstellte, der mit seinem gesamten Hinterteil wackelte und sie freundlich anhechelte.
»Ich muss gehen«, sagte der Doktor und ergriff noch einmal seine Hand. »Wie es mich freut, Euch begegnet zu sein, Lord John - es war doch Lord John, nicht wahr, und der Name Eures Bruders ist Harold? Ja, das dachte ich mir doch, dass ich es richtig in Erinnerung habe. Bitte gestattet mir zu sagen, dass Eure Mutter zwar Recht damit hatte, mich abzuweisen, dass es mich aber mit großem Stolz erfüllt hätte, Euer Stiefvater zu sein, und dass ich Sir George aufrichtig dazu beglückwünsche, dass er dieses Amt nun angetreten hat.«
Als er ging, fühlte sich Grey wie ein Mensch, dem man eine warme Decke wegzieht und der die Luft überraschend kalt findet. Die Begegnung hatte ihn leicht aus der Fassung gebracht, ihn aber gleichzeitig merkwürdig angerührt, und er schlenderte zu Percy ans Fenster.
Eine Reihe von Kindern, die zum Schutz gegen die Frühlingskälte in warme Mäntel und Wolltücher gehüllt waren, spielten unter der Aufsicht von zwei Schwestern im Freien.
»Liebst du Kinder?«, erkundigte er sich, weil es ihn überraschte, dass Percy sie so gebannt beobachtete.
»Nein, eigentlich nicht.« Aus seinen Betrachtungen gerissen, wandte sich Percy um und lächelte ihn an. »Ich habe mich nur gefragt, wie sie hier wohl leben.« Er sah sich um, und
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