Die Sünde der Brüder
sein Blick fiel auf die hohen grauen Steinmauern. Das Hospital war sauber und besaß durchaus eine gewisse Eleganz, aber »gemütlich« war nicht das Adjektiv, das man zu seiner Beschreibung gewählt hätte.
»Wahrscheinlich besser als es ihnen sonst ergehen würde.« Einige der Findelkinder waren Waisen, andere wurden von Müttern abgegeben, die sie nicht ernähren konnten.
»Sicher?« Percy lächelte ihn schief an. »Meine Mutter hat versucht, mich hier unterzubringen, als das Haus eröffnet wurde. Aber ich war schon zu alt - sie haben keine Kinder genommen, die älter als zwei waren.«
Grey starrte ihn entgeistert an.
»Oh, Gott«, sagte er leise. »Perseverance, mein Lieber.«
»Es ist nicht schlimm«, sagte Percy, und sein Lächeln hellte sich auf. »Ich habe es ihr nicht vorgeworfen. Mein Vater war ein Jahr zuvor gestorben, und sie war verzweifelt. Aber sag mir, was hältst du von unserem guten Doktor?« Er wies kopfnickend auf Rigby, der sich inzwischen ein Stück entfernt hatte, dessen Freundlichkeit aber genauso unermüdlich war wie Hercules’ Wackelschwanz.
Grey hätte noch weitergeredet, doch Percy hatte anscheinend nicht vor, sich weiter über seine frühe Kindheit zu unterhalten, daher sagte ihm Grey, welchen Eindruck er von Doktor Rigby hatte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas mit der Sache zu tun hat«, schloss er. »Mein Auftauchen ist eindeutig völlig überraschend für ihn gewesen, und wenn er nicht außergewöhnlich durchtrieben ist, hatte er keine Ahnung davon, dass meine Mutter geheiratet hat.«
An diesem Punkt traf eine neue Besucherschar ein und hinderte sie daran, ihre private Unterhaltung fortzusetzen. So schritten sie weiter durch die Galerie und ließen sich mit der Menge treiben, bis sie einen speziellen Raum erreichten, in dem sich die Dauerausstellung der Gemälde William Hogarths befand - der einer der wichtigsten Wohltäter des Hospitals war -, und ihn wenig später wieder verließen, ein jeder allein mit seinen Gedanken.
Sie gelangten erneut in die Hauptgalerie, doch Doktor Rigby und Hercules waren verschwunden.
»Wünschst du dir je -«, begann Percy und hielt dann mit einem kleinen Stirnrunzeln inne. Dichte, seidige Augenbrauen wie vom Pinsel eines Malers mit schwarzer Farbe gezogen. Greys Daumen zuckte; zu gern hätte er sie ihm glattgestrichen.
»Wünsche ich mir je?«, drängte er Percy und lächelte. »Vieles.« Er ließ die Dinge, die er sich wünschte, hörbar in seiner Stimme mitschwingen, und Percy erwiderte sein Lächeln, obwohl sein Stirnrunzeln nicht ganz verschwand.
»Wünschst du dir je, du wärst nicht so … wie du bist?«
Diese Frage überraschte ihn - jedoch weniger als die Feststellung, dass er über die Antwort nicht nachzudenken brauchte.
»Nein«, sagte er. Er zögerte einen Moment, doch eigentlich reichte es schon, dass Percy die Frage überhaupt gestellt hatte. »Du schon?«
Percy sah sich nach dem Villiers-Porträt um, dann senkte er den Blick und hielt die Augen unter seinen dunklen Wimpern verborgen.
»Manchmal. Du musst zugeben - dass es einige Dinge sehr vereinfachen würde.«
Grey warf einen nachdenklichen Blick auf das Liebeswerben eines Pärchens in ihrer Nähe; die junge Frau kokettierte gekonnt über ihren Fächer hinweg mit ihrem Verehrer und kicherte über die Fratzen, die er zog, um das Froschgesicht auf einem der Porträts nachzuahmen.
»Vielleicht. Und doch kommt es, glaube ich, sehr viel mehr darauf an, welche Stellung man im Leben bekleidet. Wäre ich beispielsweise der Erbe meines Vaters, würde ich mich verpflichtet fühlen, zu heiraten und mich fortzupflanzen, und ich würde mich wahrscheinlich darauf einlassen. So jedoch hat mein Bruder sein Soll in dieser Hinsicht mit Bravour erfüllt, und daher interessiert es niemanden, ob ich jemals heirate.«
Er tat das Thema schulterzuckend ab, doch Percy war nicht so leicht zufriedenzustellen.
» Dich mag es vielleicht nicht interessieren«, sagte er und wies lächelnd auf ihre Umgebung. »Die Frauen jedoch schon.«
Grey zog kurz eine Schulter hoch.
»Da wäre dann die Sache mit meinem Einverständnis. Man wird mich wohl kaum entführen und zwangsverheiraten.«
»Oh. Lady Joffrey schon, das versichere ich dir.« Percy verdrehte vielsagend die Augen. Er hatte Lucinda Joffrey in der
vergangenen Woche bei einem von Benedictas Empfängen kennengelernt und war von der beträchtlichen Energie, die ihre Persönlichkeit ausstrahlte, sehr beeindruckt gewesen.
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