Die Sünde der Brüder
der Hand.
»Es tut mir leid, Johnny«, sagte er leise. »Ich wage es nicht zuzulassen, dass sie dir Opium geben. Es wird furchtbar wehtun.«
»Hast … du etwa d-den Ein… druck, dass mir das… neu ist?«
Das Sprechen strengte ihn so sehr an, dass ihm schwindelig wurde und er einen beinahe unwiderstehlichen Hustenreiz verspürte. Doch Hals Miene erhellte sich ein wenig, daher war es diesen Preis wert.
»Braver Junge«, flüsterte Hal und drückte ihm kurz die Hand. Dann ließ er sie los, um etwas aus seiner Tasche zu fischen. Als es Grey gelang, seinen verschwimmenden Blick darauf
zu richten, entpuppte es sich als schlaffes Lederstück, das aussah, als hätten die Ratten daran genagt.
»Es hat Vater gehört«, sagte Hal und schob es Grey vorsichtig zwischen die Zähne. »Ich habe es bei seinen Soldatenutensilien gefunden. Einschließlich der antiken Zahnabdrücke«, fügte er hinzu und unternahm den wenig überzeugenden Versuch eines ermunternden Grinsens. »Wessen Zähne es waren, weiß ich aber nicht genau.«
Grey kaute zögerlich auf dem Leder herum und war ganz dankbar, dass es ihn daran hinderte, Hal antworten zu müssen. Es hatte einen merkwürdig angenehmen Geschmack, und er musste kurz an Gustav, den Dachshund denken, der zufrieden auf einem Stück Rinderhaut herumkaute.
Dieses Bild erinnerte ihn allerdings auch an andere Dinge - an seine letzte Begegnung mit Stephan von Namtzen und an den bitteren Duft der Chrysanthemen, an die noch größere Bitterkeit des Geruchs von Percys Schweiß und dem Fäkalieneimer … Er wandte heftig den Kopf, fort von allem. Und dann stand jemand über ihm, und er erschauerte, als man ihm die Decke wegzog.
Seine Aufmerksamkeit wurde durch ein klickendes Geräusch abgelenkt. Er wandte den Kopf und sah, wie Hal die Ladung der Pistole überprüfte, die er gerade gespannt hatte. Hal setzte sich auf einen Hocker, legte sich die Pistole auf das Knie und warf Longstreet einen Blick zu, der kalte Langeweile ausdrückte.
»Dann also los«, sagte er.
Es wurde plötzlich kühl, als der Verband von Greys Brust gehoben wurde, und er hörte das Zischen scharfkantigen Metalls und den tiefen, ungeduldigen Seufzer des Arztes. Hals Finger klammerten sich fester um die seinen.
»Halt dich einfach fest, Johnny«, sagte Hal mit ruhiger Stimme. »Ich lasse dich nicht los.«
FÜNFTER TEIL
Redivivus
30
Ein Spezialist in Herzensdingen
Anfang September kehrte er nach England zurück. Sobald er wieder genügend zu Kräften gekommen war, um das Feldhospital in Crefeld zu verlassen, hatte man ihn auf Stephan von Namtzens Jagdanwesen geschickt, wo er die nächsten beiden Monate mit seiner allmählichen Genesung verbrachte - unter der fürsorglichen Obhut von Tom, von Namtzen und Gustav, dem Dachshund, der jeden Abend zu ihm ins Zimmer kam und stöhnte, bis man ihn in sein Bett hob, wo er sich gemütlich - wenn auch schwer - auf seinen Füßen niederließ, damit seine Seele des Nachts nicht auf Wanderschaft ging.
Kurz nach seiner Rückkehr bekam er Besuch von Harry Quarry, der ihn mit Freundlichkeiten und Plaudereien aus dem Regiment unterhielt, die nur hin und wieder ein Lächeln oder ein Kopfnicken als Erwiderung erforderten.
»Ihr seid müde«, sagte Quarry abrupt. »Ich gehe dann besser, damit Ihr Euch ausruhen könnt.«
Eigentlich hätte Grey ja aus Höflichkeit protestiert, doch er stand tatsächlich kurz vor dem Zusammenbruch und hatte große Schmerzen in Arm und Brust. Er machte Anstalten, aufzustehen und Quarry zur Tür zu bringen, doch sein Freund winkte ab. An der Tür blieb er stehen, den Hut in der Hand.
»Habt Ihr in letzter Zeit viel von Melton gehört? Seit Eurer Rückkehr, meine ich?«
»Nein. Warum?« Greys Arm schmerzte furchtbar; er konnte es kaum abwarten, dass Harry ging und Tom ihm die Schlinge wieder anlegte.
»Ich dachte, er hätte es Euch vielleicht erzählt - aber wahrscheinlich wollte er ja Eure Genesung nicht stören.«
»Was soll er mir erzählt haben?« Die Schmerzen in seinem Arm schienen plötzlich nicht mehr so wichtig zu sein.
»Zwei Dinge. Arthur Longstreet ist wieder in England; der Stabsarzt - Ihr kennt ihn?«
»Ja«, sagte Grey und fuhr sich unwillkürlich mit der Hand an die Brust, deren linke Hälfte von einem Netz gerade eben verheilter Narben überzogen war. Tom hatte bei diesem Anblick gesagt, er sähe so aus, als hätte er ein Säbelduell hinter sich. »Was - hat er auch gesagt, warum Longstreet hier ist?« Warum hatte Hal ihm nichts
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