Die Sünde der Brüder
verstummt, und sie hatten alle drei flach auf dem Rücken gelegen, die Gesichter dem Himmel zugekehrt, und gemeinsam gewartet. Schweigend.
Die Dichter sprachen vom Gesang der Himmel, von Sphärenklängen - und bei Gott, so war es. Die Stille der Sterne klang in seinem Herzen wider.
Er stellte sich an das Fenster und blickte zum violetten Himmel auf, die Finger gegen das eisige Glas gepresst. Heute Nacht gab es keine Sterne; die Schneeflocken kamen aus der Dunkelheit und taumelten endlos, zahllos auf ihn zu. Ebenfalls lautlos, doch nicht so wie die Sterne. Fallender Schnee flüsterte sich selbst Geheimnisse zu.
»Und du bist ein verträumter Idiot«, sagte er laut und wandte sich vom Fenster ab. »Demnächst schreibst du noch Gedichte.«
Er zwang sich, sich hinzulegen, und starrte die verputzte Zimmerdecke an. Die Erinnerung an die Sternguckerei hatte
ihn zwar beruhigt, doch er glaubte nicht, dass er schlafen würde. Zu viele Gedanken durchkreisten seinen Kopf, endlos und verwirrend wie die Schneeflocken. Verschollene Tagebücher, wieder auftauchende Seiten, uralte Wetten - war diese Wette der Ursprung der Feindseligkeit zwischen seinem Bruder und Oberst Twelvetrees? Und die sogenannte sodomitische Verschwörung - hatte sie irgendetwas mit seiner Familie zu tun? Genauso gut hätte er versuchen können, die fallenden Schneeflocken so zusammenzusetzen, dass es einen Sinn ergab.
Erst, als sich seine Augen schlossen, kam ihm der Gedanke, dass sich Schneeflocken zwar nicht zusammenfügen lassen, dass sie sich jedoch aufeinanderhäufen. Eine auf die andere, bis ihre schiere Masse eine Kruste bildet, auf der ein Mensch gehen kann - oder in die er einbrechen kann.
Morgen würde er ja sehen, wie tief die Verwehungen waren.
Stattdessen kam am Morgen ein Brief.
»Geneva Dunsany ist tot.« Benedicta, verwitwete Gräfin Melton, legte den schwarz umrandeten Brief vorsichtig neben ihren Teller. Ihr Gesicht war blass. Der Butler, der ihr gerade frischen Toast hatte reichen wollen, erstarrte mitten in der Bewegung.
Im ersten Moment sagten ihm ihre Worte nichts. Der heiße Tee in Greys Tasse wärmte ihm durch das Porzellan hindurch die Finger, und der duftende Dampf mischte sich in seiner Nase mit den Gerüchen nach Brathering, warmem Brot und Marmelade. Dann hörte er, was seine Mutter gesagt hatte, und stellte seine Tasse hin.
»Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte er. Seine Lippen fühlten sich taub an, trotz des Tees. »Wie ist es passiert?«
»Bei der Geburt ihres Kindes«, sagte sie, holte tief Luft und öffnete die Augen. »Das Kind lebt noch. Ein Sohn, sagt Lady Dunsany.« Allmählich bekam das Gesicht der Gräfin wieder Farbe, und sie griff noch einmal nach dem Brief.
»Da ist noch etwas Bemerkenswertes, wenn es auch furchtbar
traurig ist«, sagte sie. »Sie sagt, der Vater des Kindes - Ellesmere, der alte Ludovic, du weißt schon - ist am selben Tag gestorben wie seine Frau.«
»O je.« Seine Cousine Olivia blickte zu ihrer Tante auf, und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Olivia war ohnehin eine zart besaitete junge Frau, und ihre Sensibilität hatte im Lauf ihrer eigenen Schwangerschaft zugenommen. Allerdings vermutete Grey, dass die Neuigkeit, dass Geneva Dunsany bei der Geburt ihres Kindes gestorben war, auf jede Schwangere eine makabere Wirkung gehabt hätte.
Grey hustete, um seine Cousine abzulenken - und seine eigenen Gefühle vorerst außen vor zu lassen.
»Der Graf ist ja wahrscheinlich nicht an gebrochenem Herzen gestorben«, sagte er. »War es möglicherweise der Schock?«
»Woher weißt du denn, dass es kein gebrochenes Herz war?«, fragte Olivia tadelnd und betupfte ihre Augen mit ihrer Serviette. »Wenn meinem liebsten Malcolm etwas zustoßen würde, würde ich das bestimmt nicht überleben!« Ihre Augen liefen über, als sie an ihren frisch gebackenen Ehemann dachte, der gegenwärtig in der Wildnis Amerikas seinen Militärdienst leistete.
Die Gräfin warf ihrem Sohn einen zynischen Blick zu; Olivia war bei ihrer Tante eingezogen, nachdem Malcolm Stubbs nach Albany abgereist war, und Grey vermutete, dass seine Cousine ihr mit ihrer lebhaften Fantasie und ihrer Gefühlsduselei allmählich auf die Nerven ging. Seine Mutter hatte zwar ein gutes Herz, war aber nicht sehr geduldig.
»Ich glaube, Ellesmere war gute fünfzig Jahre älter als seine Frau«, versuchte Grey zu schlichten. »Und er hat sie zwar bestimmt gerngehabt, aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass er durch den Schock
Weitere Kostenlose Bücher