Die Sünde der Brüder
betrachtete ihn mit so etwas wie Mitgefühl, unter das sich Neugier mischte.
»Nein«, sagte Grey, der jetzt die Sprache wiederfand. Mühsam schloss er das Buch und legte es hin. »George Longstreet. Ihr?«
Doktor Longstreet schüttelte den Kopf.
»Mein Vetter. Ich bin aber Zeuge der Wette gewesen.« Der breite, lebhafte Mund des Arztes zuckte an einer Seite. »Es war ein denkwürdiger Abend. Euer Bruder hätte Twelvetrees um ein Haar zum Duell herausgefordert, und er wurde nur durch Hauptmann Quarry davon abgehalten - der damals natürlich noch Leutnant war und ihn darauf hingewiesen hat, dass er es nicht ehrenvoll riskieren könne, seine Mutter und seinen Bruder im Fall seines Todes schutzlos zurückzulassen. Ihr müsst damals noch ein Kind gewesen sein?«
Das Blut brannte bei diesen Worten in Greys Wangen. Er hatte noch nichts zu trinken gehabt, spürte aber ein Rauschen in seinen Ohren, zusammen mit jenem merkwürdigen Gefühl, von allem losgelöst zu sein, das ihn manchmal überkam, wenn er zu viel Wein getrunken hatte, als träfe ihn keine Verantwortung für das, was sein Körper tat.
»Mr. Holmes«, rief er, und seine Stimme war überraschend ruhig. »Feder und Tinte, wenn Ihr so freundlich wärt.«
Er öffnete das Buch, ergriff den Federkiel, den der nervös schweigende Holmes hastig besorgt hatte, und schrieb ordentlich unter den Eintrag seines Bruders:
Lord John Grey schließt sich der Wette an, zu denselben Bedingungen .
Er hatte keine zwanzigtausend Pfund, doch das schien keine Rolle zu spielen.
»Wenn die Herren so freundlich wären, meinen Eintrag zu bezeugen?« Er hielt Longstreet den tintenfleckigen Federkiel entgegen, und dieser ergriff ihn mit belustigter Miene. Holmes stieß ein leises Hüsteln aus, und als Grey sich umwandte, sah er, dass sein Bruder in der Tür stand und ihn ausdruckslos beobachtete. Aus dem Kartenzimmer hinter ihm drangen Gelächter und bestürzte Ausrufe.
»Was in Gottes Namen ist nur mit dir los?«, fragte Hal sehr leise.
»Das Gleiche, was mit dir los ist«, sagte Grey. Er nahm seinen Hut und Mantel von der Garderobe im Flur und verneigte sich.
»Gute Nacht«, sagte er höflich. »Euer Gnaden.«
3
Der Lieblingskriminelle
Zu Hause konnte er nicht schlafen, und nachdem er eine unruhige Stunde damit verbracht hatte, die Bettwäsche zu Knoten zu zerwühlen, stand er auf, stocherte im Feuer, setzte sich in eine Decke gehüllt ans Fenster und sah den fallenden Schneeflocken zu.
Eiskristalle überzogen das Glas wie feine Spitze, doch Grey bemerkte die Kälte kaum; er brannte, und diesmal waren es nicht die Flammen plötzlicher Lust - sondern das Verlangen, die Stadt zu durchqueren, das Haus seines Bruders aufzusuchen, Hal aus dem Bett zu zerren und sich auf ihn zu stürzen.
Er konnte - vermutete er - verstehen, warum Hal ihm nie etwas von der Wette erzählt hatte. In den Wirren des Skandals, der dem Tod des Herzogs folgte, hatte man Grey prompt zu entfernten Verwandten seiner Mutter in Aberdeen geschickt. Er hatte zwei trostlose Jahre in der grauen Stadt aus Stein verbracht, und während dieser Zeit hatte er seinen Bruder nur ein einziges Mal gesehen.
Als er dann nach England zurückgekehrt war, war Hal mehr oder weniger ein Fremder für ihn gewesen, der so mit dem Wiederaufbau des Regiments zu tun hatte, dass er keinerlei Zeit für Freunde oder Familie hatte. Und dann… nun, dann war er seinerseits Hector begegnet, und dieses Ereignis hatte seine persönliche Welt dermaßen auf den Kopf gestellt, dass auch er keine Aufmerksamkeit mehr für irgendjemand anderen übrig gehabt hatte.
Die Brüder waren einander erst wieder nähergekommen, als Grey in das Regiment eintrat und feststellte, dass er das Familientalent und die Vorliebe für das Soldatendasein geerbt hatte.
Hal hatte die Wette mit Sicherheit nicht vergessen, doch da sie offensichtlich niemals eingelöst worden war, war es vorstellbar, dass er Jahre nach ihrem Abschluss einfach nicht auf den Gedanken gekommen war, sie zu erwähnen.
Nein, was ihn ärgerte, war nicht, dass Hal die Wette nie erwähnt hatte, sondern die Tatsache, dass Hal ihm niemals offen gesagt hatte, dass er ihren Vater nicht für einen Verräter hielt. Grey war zwar immer stillschweigend davon ausgegangen, dass dies der Fall war, doch die Angelegenheit war nie zwischen ihnen erwähnt worden - und jeder beiläufige Beobachter hätte einen völlig anderen Schluss aus Hals Verhalten gezogen und es als das Bemühen eines Mannes
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