Die Sünde der Brüder
interpretiert, mit der Schande und dem Skandal zu leben und dabei seinen eigenen Vater zu verleugnen.
Eigentlich, so musste Grey sich eingestehen, war er nur deshalb davon ausgegangen, dass Hal sein Vertrauen in ihren Vater teilte, weil er die Alternative nicht ertragen konnte. Wenn er ehrlich war, musste er jetzt zugeben, dass die Tatsache, dass Hal nicht mit ihm darüber gesprochen hatte, mindestens so sehr darin begründet lag, dass er selbst das Thema nie angeschnitten hatte, wie darin, dass Hal es vermieden hatte. Er hatte Angst davor gehabt zu hören, was sehr wahrscheinlich die Wahrheit war: dass Hal irgendetwas Unangenehmes, Unleugbares über den Herzog wusste, das er nicht wusste, dass er ihm dieses Wissen aber aus Güte vorenthalten hatte.
Es tat zwar gut zu wissen, wie Hal tatsächlich dachte, doch jede mögliche Erleichterung ging in seiner Entrüstung unter. Die Gewissheit, dass diese Entrüstung weitgehend unbegründet war, machte alles nur schlimmer.
Das Schlimmste an alldem war der Ekel, den er sich selbst gegenüber empfand, das Gefühl, dass er Hal Unrecht getan hatte - wenn auch nur in Gedanken -, und die Wut darüber, dass er sich zu diesem Unrecht hatte verleiten lassen.
Er erhob sich rastlos und schritt im Zimmer umher. Dabei gab er Acht, leise aufzutreten. Das Zimmer seiner Mutter lag direkt unter dem seinen.
Er konnte sich nicht einmal mit Hal darüber aussprechen, weil er dann gezwungen gewesen wäre, Zweifel offen einzugestehen, die er lieber unter Verschluss hielt, vor allem jetzt, da sie widerlegt worden waren - zumindest seine Zweifel in Bezug auf Hal. Was seinen Vater betraf … was zum Teufel hatte diese Seite aus dem verschollenen Tagebuch zu bedeuten? Wer hatte sie in Hals Amtsstube gelegt? Und warum hatte seine Mutter Hal gesagt, der Herzog hätte das Buch verbrannt, wenn er es doch eindeutig nicht getan hatte?
Er blickte auf den Fußboden und überlegte, ob es wohl klug war, nach unten zu gehen und seine Mutter zu wecken, um sie zu fragen. Doch Hal hatte gewünscht, allein mit ihr zu sprechen; das war wohl sein Recht. Dennoch, wenn einer der beiden glaubte, er würde sich jetzt weiter mit ausweichenden Antworten oder oberflächlichen Beschwichtigungen abspeisen lassen… Ihm wurde klar, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und er öffnete sie.
»Da irrt ihr euch«, sagte er leise und rieb sich mit der Handfläche über das Bein. »Alle beide.«
Er hatte seine Taschenuhr offen auf dem Schreibtisch liegen gelassen. In diesem Moment bimmelte sie leise, und er ergriff sie und hielt sie in Richtung des Feuers, um die Zeit abzulesen - halb zwei. Er legte sie wieder hin, neben das Tagebuch, das ebenfalls dort lag, eines der Tagebücher seines Vaters. Er hatte in der Bibliothek wahllos nach dem Bändchen gegriffen und es ohne konkreten Grund mit nach oben genommen. Er hatte einfach nur das Bedürfnis gehabt, es anzufassen.
Sanft legte er die Hand auf den Einband. Grob gegerbtes Leder mit fest eingenähten Seiten. Wie alle anderen Tagebücher des Herzogs war es dafür gemacht, Reisen und die Unbeständigkeiten eines Feldzugs zu überstehen.
» … habe heute Morgen vor der Dämmerung mit V. und John einen Perseidenschauer beobachtet. Wir haben auf dem Rasen gelegen und innerhalb einer Stunde über sechzig Meteore gezählt, von denen mindestens ein Dutzend sehr hell waren und sichtlich blau oder grün getönt waren .«
Er wiederholte den Satz in seinem Kopf, um sicherzugehen, dass er ihn sich Wort für Wort eingeprägt hatte. Dies war der einzige Satz auf der Seite, die Hal verbrannt hatte, in dem er mit Namen erwähnt wurde; ein Goldkörnchen.
Er hatte jene Nacht ganz vergessen, bis diese beiläufige Aufzeichnung sie ihm wieder ins Gedächtnis rief: die feuchte Kühle des Rasens, die ihm in die Kleider drang, die Aufregung, die stärker war als die Verlockung des Schlafes, und die Sehnsucht nach seinem warmen Bett. Dann das »Ah!« seines Vaters und Victors - ja, »V.« war Victor Arbuthnot, einer der Astronomenfreunde seines Vaters. Ob Arbuthnot noch lebte?, fragte er sich. Der plötzliche Ruck seines Herzens beim Anblick der ersten Sternschnuppe - eine kurze, verblüffende, lautlose Lichtspur, als sei tatsächlich ein Stern vom Himmel gefallen.
Das war es, was ihm am intensivsten im Gedächtnis geblieben war - die Stille. Zunächst hatten sich die Männer noch beiläufig unterhalten; halb im Traum versunken, hatte er nicht zugehört. Doch dann war ihr Gespräch
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