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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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ersten Mal mischte sich leise Bestürzung in den Gedanken an seinen Besuch in Helwater. Percy Wainwright … doch hier gab es schließlich keinen Grund zur Eile, oder? Schon gar nicht, wenn Wainwright tatsächlich in das Regiment eintrat. Und er war für heute Nachmittag mit dem Mann verabredet; dann konnte er ihm alles erklären. Vielleicht sogar …
    Eine Bewegung an der Tür zog seinen Blick auf sich, und als er aufblickte, sah er seine Mutter dort stehen, die Hand gegen den Türrahmen gestützt.
    »Geh, wenn du musst«, sagte sie abrupt. »Aber um Himmels willen, John, sei vorsichtig.«
    Dann machte sie kehrt und war wieder fort. Endgültig aus der Fassung gebracht, ergriff er seine Tasse, stellte fest, dass der Tee kalt geworden war, und trank ihn dennoch aus.

4
    Schneeregen
    Es war Schneeregen, jener unentschlossene Niederschlag, der nur halb Schnee war, aber auch kein Nieselregen. Unförmige, verstreute Flocken fielen langsam zu Boden, kreisten durch die graue Luft und streiften sein Gesicht, winzige kalte Berührungen, die so flüchtig waren, dass sie nicht einmal einen Hauch von Feuchtigkeit zurückließen. Trockene Tränen, dachte er, die gut zu seinem entfernten Gefühl der Trauer passten.
    Er blieb am Haymarket stehen und wartete auf seine Gelegenheit, den Verkehr der Droschken, Kutschen, Pferde und Handkarren zu durchkreuzen. Es war ein weiter Weg; er hätte reiten können, sich eine Sänfte bestellen oder die Kutsche seiner Mutter nehmen können, aber er war zu nervös gewesen, hatte das Bedürfnis nach frischer Luft gehabt, und er hatte sich nur Menschen um sich gewünscht, mit denen er nicht sprechen musste. Und er brauchte Zeit, um sich auf das Wiedersehen mit Percy Wainwright vorzubereiten.
    Natürlich war er erschüttert. Er hatte Geneva von Geburt an gekannt. Ein hübsches Mädchen mit großem Charme und diesem ganz besonderen Licht in den Augen. Ein bisschen verwöhnt, was sie aber nicht unattraktiv machte, und ziemlich waghalsig. Eine fantastische Reiterin. Es hätte ihn nicht im Mindesten überrascht zu hören, dass sie sich bei einem Jagdunfall das Genick gebrochen hatte oder bei einem gefährlichen Sprung über ein Hindernis umgekommen war. Die schiere … Gewöhnlichkeit eines Todes bei der Geburt … das war irgendwie nicht recht, war ihrer auf obskure Weise unwürdig.
    Er konnte sich gut daran erinnern, wie sie ihn einmal bei einem gemeinsamen Ausritt zu einem Wettrennen herausgefordert
hatte. Als er abgelehnt hatte, hatte sie sich seelenruhig die Hutnadeln herausgezogen, sich zur Seite gebeugt und sein Pferd mit dem Hut auf die Kruppe geschlagen. Dann hatte sie ihr Pferd in die Flanken getreten und war davongaloppiert. Ihm war es überlassen geblieben, sein eigenes Pferd am Durchgehen zu hindern und ihr dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die raue Hügellandschaft oberhalb Helwaters zu folgen. Er war ein guter Reiter - aber er hatte sie nicht eingeholt.
    Als stellte diese Erinnerung immer noch eine Herausforderung dar, stürzte er sich in den Verkehr und schoss über das Pflaster. Er duckte sich vor der Nase eines erschrockenen Droschkengauls hindurch und erreichte herzklopfend die andere Seite, die Flüche des Kutschers noch im Ohr.
    Als er sich jetzt Richtung St. Martin’s Lane hielt, spürte er das Blut in seinen Ohren und Fingern pulsieren und empfand jenes halb schamerfüllte Gefühl der Freude, am Leben zu sein, mit dem man manchmal auf die Nachricht von einem Todesfall - oder den Anblick eines Toten - reagierte.
    In seinem Kopf war sie noch nicht tot. Vielleicht würde sie es auch erst sein, wenn er Helwater erreichte und unter ihrer Familie weilte, sich an Orten aufhielt, die ihr vertraut gewesen waren. Er versuchte, sie sich vorzustellen, musste aber feststellen, dass ihr Gesicht aus seinem Gedächtnis verblichen war, obwohl er sich gut an ihre Gestalt erinnern konnte, schlank in einem braunen Reitkostüm, mit kastanienbraunem Haar, flink wie ein Fuchs.
    Unvermittelt fragte er sich, ob er sich noch an Percy Wainwrights Gesicht erinnern konnte. Er hatte vorgestern ein zweistündiges Mittagessen damit verbracht, es zu betrachten, war sich aber plötzlich unsicher. Und den Großteil der zweiten Stunde damit, sich die Gestalt vorzustellen, die sich unter dem adretten blauen Anzug verbarg; hier war er sich schon sicherer, und sein Herzschlag beschleunigte sich erwartungsvoll.
    Doch was er vor seinem inneren Auge sah, war ein anderes Gesicht, eine andere Gestalt, die

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