Die Sünde der Brüder
einen Schlaganfall erlitten hat, als dass er an übergroßer Trauer gestorben ist.«
»Oh.« Olivia zog die Nase hoch und wischte sich mit der Serviette darüber. »Oh, aber das arme kleine Ding - am Tag seiner Geburt zum Waisenkind zu werden! Ist das nicht furchtbar?«
»Furchtbar«, pflichtete ihr die Gräfin geistesabwesend bei. »Es war aber weder ein Schlaganfall noch ein Gefühlsausbruch. Lady Dunsany sagt, der Graf ist durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen.«
Olivia blickte verständnislos drein.
»Einen Unfall?«, wiederholte sie und wischte sich noch einmal geistesabwesend über die Nase, bevor sie sich die Serviette wieder auf den Schoß legte. »Was ist denn passiert?«
»Das schreibt Lady Dunsany nicht«, berichtete die Gräfin, die den Blick stirnrunzelnd auf den Brief gerichtet hatte. »Wie merkwürdig. Sie sind natürlich alle furchtbar bestürzt.«
»Hatte Ellesmere Angehörige«, erkundigte sich Grey, »oder nehmen die Dunsanys das Kind?«
»Sie haben es zu sich genommen. Abgesehen von den unmittelbaren Notwendigkeiten ist Isobel ihre größte Sorge. Sie hat sehr an ihrer Schwester gehangen und trauert so sehr …« Die Gräfin legte den Brief kopfschüttelnd nieder. Dann spitzte sie die Lippen und sah Grey nachdenklich an.
»Sie fragt, ob du sie nicht bald besuchen kannst, John. Isobel hat dich so gern; Lady Dunsany meint, du kannst sie vielleicht ein wenig von ihrem Schmerz ablenken. Das Begräbnis - oder Begräbnisse; meinst du, sie beerdigen sie zusammen? - ist für nächsten Donnerstag angesetzt. Ich gehe davon aus, dass du sowieso bald nach Helwater gereist wärst, um dich vor dem Aufbruch des Regiments nach dem Wohlbefinden deines Lieblingskriminellen zu erkundigen, aber -«
»Dein Lieblingskrimineller?« Olivia, die damit begonnen hatte, sich Butter auf ihren Toast zu streichen, hielt mit offenem Mund inne, und ihr Messer erstarrte mitten in der Luft. »Was-?«
»Also, Mutter«, sagte Grey nachsichtig und hoffte, dass man ihm den plötzlichen Satz, den sein Herz getan hatte, nicht ansah. »Mr. Fraser ist -«
»Ein des Hochverrats verurteilter Jakobit und ein Mörder«, unterbrach ihn seine Mutter scharf. »Also wirklich, John, ich kann nicht verstehen, warum du solche Mühen auf dich genommen
hast, damit ein solcher Mann in England bleiben kann, obwohl er doch deportiert gehört. Eigentlich überrascht es mich sogar, dass man ihn nicht auf der Stelle gehängt hat!«
»Ich hatte meine Gründe«, erwiderte Grey und zwang sich, ruhig zu sprechen und sie weiter anzusehen. »Und ich fürchte, du musst in dieser Angelegenheit auf mein Urteilsvermögen vertrauen, Mutter.«
Die Wangen seiner Mutter liefen plötzlich rot an, doch sie wandte den Blick nicht von ihm ab, die Lippen fest aufeinandergepresst. Dann regte sich etwas in ihren Augen, als käme ihr ein Gedanke.
»Natürlich«, sagte sie, und plötzlich war ihre Stimme genauso farblos wie ihre jetzt wieder erblassten Wangen. »Gewiss doch.« Sie sah Grey zwar immer noch an, doch ihr Blick war nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern auf irgendetwas weit hinter ihm. Sie holte tief Luft, dann schob sie plötzlich entschlossen ihren Stuhl vom Tisch zurück.
»Ihr müsst mich entschuldigen, meine Lieben. Ich habe heute Morgen viel zu tun.«
»Aber du hast doch fast gar nichts angerührt, Tante Bennie!«, protestierte Olivia. »Möchtest du denn keinen Hering, oder vielleicht etwas Porridge …« Aber die Gräfin war bereits mit wehenden Röcken verschwunden.
Olivia sah Grey argwöhnisch an.
»Was war das denn gerade?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Grey wahrheitsgemäß.
»Irgendetwas an deinem verflixten Mr. Fraser hat sie beunruhigt«, sah Olivia und richtete den Blick stirnrunzelnd auf die Tür, hinter der die Gräfin verschwunden war. »Wer ist er?«
Himmel, wie sollte er eine solche Frage beantworten? Er wählte den einzig möglichen Weg, den der strikten Tatsachen.
»Er ist, wie meine Mutter schon gesagt hat, ein jakobitischer Offizier, ein Schotte. Er war einer der Gefangenen in Ardsmuir, dort habe ich ihn kennengelernt.«
»Aber er ist doch in Helwater? Wie ist er dort hingekommen?«, fragte Olivia verblüfft.
»Man hat Ardsmuir geschlossen und die Gefangenen deportiert«, erwiderte er, den Blick sorgsam auf seinen Hering gerichtet. Er hob die Gräten an und legte sie geschickt beiseite, dann zuckte er mit der Schulter. »Fraser blieb von der Deportation verschont, durfte aber nicht in Schottland
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